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Die Anfänge meiner Welt

Die Anfänge meiner Welt

Titel: Die Anfänge meiner Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lorna Sage
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trotz der
Scheidung seit damals kaum verändert, nur noch dünner war sie geworden. Und sie
war berufstätig: Sie fuhr das Dorftaxi. Meine Mutter dagegen führte dank einer
Kombination von Ehe, Armut und den absurden Ansprüchen ihrer Eltern eher das
Leben eines Hausmütterchens. Das war es, was Grandma so in Rage brachte. Sie
sagte, Ivy sehe aus wie die Olivia Oyl aus den Popeye-Cartoons oder wie eine
Lakritzstange. Und sie sei ordinär. In Wirklichkeit muß Grandma die Scheidung
für eine gute Sache gehalten haben — schließlich sah sie die Ehe insgeheim so:
Der Mann legte sich nur deshalb eine Frau zu, um seinen Spaß mit ihr zu haben,
also sollte er auch sein Leben lang teuer dafür bezahlen. Doch wenn sie
sich zu diesem Thema äußerte, stimmte sie mit der öffentlichen Meinung im Dorf
überein.
    Selbst in den Pausenspielen,
die zwischen Schubsen und Schlagen stattfanden, ging es um die unabänderliche
Ordnung der Dinge. »Der Bauer will eine Frau«, skandierten wir, im Kreis an den
Händen gefaßt — »He ho, he ho, der Bauer will eine Frau.« Und wenn die kleine
Rotznase in der Mitte sich eine Braut ausgesucht hatte: »Die Frau will ein
Kind... Das Kind will einen Hund. He ho, he ho, das Kind will einen Hund.«
Diese hündische Erweiterung der Kernfamilie stellte die Verbindung zur ganzen Artenvielfalt
her, von oben bis unten, von Patriarch bis Welpe. Und dann der Höhepunkt: »Der
Hund will einen Knochen.« Der Knochen, traditionell einer von den Kleinsten,
wurde vom Bauern, der Frau, dem Kind und dem Hund kräftig herumgeschubst, in
die Luft geworfen und wieder aufgefangen, während wir anderen triumphierend
schrien: »Der Knochen — kann nicht stehen! He ho! He ho! Der Knochen — kann
nicht STEHEN!« Der Knochen zu sein war kein reines Vergnügen, es war ebenso
schmerzhaft wie aufregend, und so war ich nicht traurig darüber, daß ich nur
selten drankam. Das Spiel glich wie alle unsere Spiele ein wenig diesen
gruppentherapeutischen Übungen, bei denen man sich rücklings fallen lassen muß,
um darauf vertrauen zu lernen, daß man aufgefangen wird. Gegenseitige
Abhängigkeit: Bauer, Frau, Kind, Hund, Knochen — Symbol der großen Kette des
Lebens. Und man konnte nicht abseits stehen. Gail und ich und die weniger
krassen Außenseiter — wir alle schmeichelten uns bei der Meute ein, jeder auf
seine Art.

    Mein großes Plus war der
Friedhof. Mr. Downward, der Küster, drückte bei den Gräberhüpfspielen ein Auge
zu, wenn ich daran beteiligt war, vorausgesetzt, wir trieben es nicht allzu
bunt. Er schien den Friedhof als Erweiterung des Pfarrgartens zu betrachten,
und tatsächlich war die Mauer zwischen beiden an einer Stelle so verfallen, daß
die Grenze dort nur noch aus einem von Brennesseln überwucherten
Backsteinhaufen bestand. Für mich galt »Unbefugtes Betreten verboten« nicht,
und ich dehnte meine Immunität auf die »dreckigen« Kinder aus, die ich überreden
konnte, nach der Schule oder samstags mit mir zu spielen. Besonders gefragt war
ich, wenn am Samstag vormittag eine Trauung stattgefunden hatte. Wir alle
sammelten Konfetti, dessen Bonbonfarben sich in unserer regenreichen Gegend
jedoch nicht lange hielten. Man mußte die rosa Glöckchen, weißen Schleifchen
und silbernen Hufeisen schnell auflesen, sonst lösten sie sich in nichts auf.
Besonders begehrt war silbernes Konfetti; die billige Sorte aus Altpapier, oft
nur Punkte mit kryptischen Wortfragmenten darauf, verschmähten wir. Einmal
lagen Rosenblätter aus Seidenpapier auf dem Weg, jedes einzelne in einem von
Creme ins Purpurrot spielenden Farbton; ehrfürchtig sammelten wir sie ein.
    Noch besser waren Grabkränze,
die man allerdings, bis sie auf den Komposthaufen in der Friedhofsecke geworfen
wurden, nur anschauen konnte. Dann aber war es mit etwas Glück möglich, eine
noch nicht verblühte Nelke, Lilie oder Chrysantheme zu bergen — Luxusblumen,
die dem Goldlack, der Erika und den Bartnelken am Dorfrand haushoch überlegen
waren. Wir bestaunten auch die Glas- und Porzellanimmortellen unter ihren
Glasglocken, und manche Gräber sahen mit den Büschen, die darauf wuchsen, und
dem kurzgeschorenen Gras beeindruckend ordentlich aus. Doch erst die
Blumensträuße, die auf die Gräber gelegt wurden, versetzten uns in die Lage,
wirklich an den Trauerspielen der Erwachsenen teilzunehmen. Nichts macht
Kindern mehr Freude, als Dinge gerecht zu verteilen, und daß viele der Toten zu
kurz kamen, war offensichtlich. Unsere Clique — fast

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