Die Anfänge meiner Welt
ausschließlich Mädchen —
machte sich daran, das zu ändern und die Blumen in Marmeladegläsern und Vasen,
die wir an der Pumpe des Küsters mit Wasser füllten, neu zu verteilen, so daß
jeder etwas bekam. Streng egalitär ging es dabei allerdings nicht zu. Bestimmte
Gräber, vor allem das mit dem seelenvoll dreinblickenden kleinen Marmorengel —
es war das Grab eines in den dreißiger Jahren gestorbenen Kindes — , bekamen
immer die schönsten Sträuße ab.
Rückblickend könnte man in
unseren pietätvollen, parteiischen Bemühungen einen schwachen Abglanz der
Sozialpolitik der Nachkriegszeit sehen. Der Friedhof von Hanmer war ein
Mikrokosmos der Ungleichheit. Keines der Kinder, die dort so geschäftig an der
Pumpe herumplanschten und feierlich Narzissen und Nelken verteilten, hatte,
wenn man so will, ein eigenes Grab. Die Toten ihrer Familien lagen zwar
ebenfalls dort, aber ihre Gräber waren nicht gekennzeichnet, sie blieben auch
auf dem Friedhof die Habenichtse. Natürlich hatte auch meine Familie keine
Grabstätte, aber nur deshalb, weil wir noch nicht lange in Hanmer wohnten.
Heute liegt meine Mutter dort unter ihrem Stein, neben meinen Großeltern. Ob
wohl einer der Aufsteiger meiner Generation, der eine oder andere Ducket,
Williams oder Briggs, in Grabimmobilien investiert hat? Damals, Ende der
vierziger Jahre, bewohnten ihre Familienmitglieder nach ihrem Ableben anonyme
kleine Grashügel, um die sich niemand kümmerte. Wir Kinder nahmen es, glaube
ich, als selbstverständlich hin, daß das Leben nach dem Tod eine Frage der
Gesellschaftsschicht war. Ich erinnere mich, daß wir viele Stunden vergeblich
nach dem Eingang zur Gruft der Hanmers und der Kenyons suchten, in der
Erwartung, dort auf echte Gespenster zu stoßen. Für uns stand fest, daß sie nur
deshalb diese unterirdischen Wohnungen brauchten, weil sie irgendwie untot
waren. Aber vielleicht war das nur eine meiner Theorien. Außerhalb des
Schulhofs, auf kirchlichem Boden, warf ich mich zur Expertin für solch
schaurige Themen auf und schaffte es auf diese Weise — an glücklichen Tagen — ,
mich akzeptiert zu fühlen, als Mitglied der Kinderwelt von Hanmer.
Für die Läuse gehörte ich
jedenfalls dazu, das hatte mir der Schularzt bescheinigt. Ich wurde mit einer
entsprechenden Mitteilung nach Hause geschickt, wie die meisten von uns (wenn
auch nicht alle: Daß Läuse sauberes Haar bevorzugen, ist nichts weiter als ein
Propagandatrick, um Angehörigen der Mittelschicht das Eingeständnis zu
erleichtern), und Grandma sagte, wie nicht anders zu erwarten: Erstens, ich
hätte sie mir bei diesen dreckigen Kindern geholt, und zweitens, es sei
zwecklos, das empfohlene Wundermittel gegen Läuse anzuwenden, denn man müsse
dafür zu viele Kessel Wasser kochen und ich würde mir sowieso gleich wieder
welche einfangen. Und schon gar nicht könnten wir das Zeug im Dorf kaufen, denn
da bekäme es jeder mit; wir müßten dazu extra woandershin fahren, wo uns
niemand kenne. So verbreitete ich den Rest meiner Grundschulzeit hindurch die
Läuse munter weiter. Und zu meinem größten Kummer auch im ersten Jahr auf dem
Gymnasium — doch davon später. Fürs erste gehörte ich mehr oder weniger dazu.
Den Höhepunkt meiner Karriere
als dreckiges Kind, den ich zu dieser Zeit erreichte, verdankte ich ebenfalls
dem Schularzt. Ärztliche Untersuchungen waren für die meisten Familien in
Hanmer etwas völlig Neues, und uns Kinder ermächtigten die Anfänge des
Staatlichen Gesundheitsdienstes zu aufwendigen Doktorspielen, die im Gebüsch
ganz hinten im Pfarrgarten stattfanden. Nirgendwo sonst war man so ungestört
(keine andere Familie war so nachlässig), und solange die Doktormanie anhielt,
war ich jedermanns Freundin.
Wir standen hinter einem
Haselnußstrauch Schlange, die Unterhosen um die Knie, in der Hand »Papiere« aus
Blättern, und rückten langsam vor, um uns von Kenny, Bill oder Derek unten
herum untersuchen zu lassen. Nach eingehender Betrachtung und einer
fragwürdigen Diagnose wurde immer dasselbe verschrieben: ein weiteres Blatt,
das aufregenderweise auch ein Brennesselblatt hätte sein können, was aber nie
der Fall war. Die Mädchen klebten es mit Spucke fest, die Jungen spießten es
auf ihren Pimmel, und man mußte es wie einen Breiumschlag so lange wie möglich
an sich behalten. Fast den ganzen Sommer über wurde diese illegale Sprechstunde
abgehalten, bis sie uns zu langweilen begann; vielleicht wurde auch das Wetter
schlecht. Nie wieder ergab
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