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Die Anfänge meiner Welt

Die Anfänge meiner Welt

Titel: Die Anfänge meiner Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lorna Sage
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der Schüler in der Gesellschaft widerspiegeln und sie mit
fester Hand dorthin zurückführen sollte, wo sie herkamen, geriet selbst in
Hanmer aus der Mode. Das nahm man jedoch ungern zur Kenntnis. Man hielt am
Prinzip einer starren Klassengesellschaft fest, indem man die wenigen Kinder,
deren Familien nicht ins Schema paßten, aussonderte und sie Hausaufgaben machen
ließ. Für das Korrigieren allerdings fühlte sich Mr. Palmer nicht mehr
zuständig. Er gab uns dreien Rechenaufgaben, deren Lösungen wir dann am
nächsten Morgen in einer Ecke des Klassenzimmers vergleichen mußten. Waren alle
drei — oder auch nur zwei von uns — zum selben Ergebnis gelangt, dann war es
das richtige. Hatte aber, was häufig vorkam, jeder eine andere Lösung,
entschwand die betreffende Division oder Bruchrechnung ins Reich des
Unergründlichen. Meist war unser Ergebnis allenfalls ein guter Näherungswert.
So entwickelte ich eine erschreckend platonische Vorstellung von den Gesetzen
der Arithmetik. Die richtige Lösung mußte existieren, aber in einem
nebelhaften Empyreum. Beten (hundert vier undvierzig. Amen) schien
oft kein schlechterer Weg zum richtigen Resultat.
    Rechnen war meine Crux. Die
Mathematik gehörte nicht zu Großvaters Talenten; Zahlenspiele wurden bei uns
nicht gemacht, denn sie waren eine Unterabteilung der Alterungsschäden und
alles andere als lustig. Für die Spucke-und-Kreide-Prozedur war ich gewappnet —
Wörter bereiteten mir keine Schwierigkeiten — , doch mit den Zahlen kämpfte ich
genauso wie die anderen, weil Mr. Palmers Methode (die Methode der Schule)
nicht vorsah, uns zu verraten, daß die erforderlichen Fertigkeiten erlernbar waren. Bestand jemand die Prüfung für das Stipendium, dann deshalb, so seine
Theorie, weil er gar nicht erst in die Schule von Hanmer hätte gehen dürfen.
    Einmal ließ Mr. Palmer seine
Schüler in einer Reihe antreten, ging die Reihe entlang und sagte mit düsterer
Genugtuung zu jedem einzelnen: »Du wirst einmal die Mistgabel schwingen, du
wirst einmal die Mistgabel schwingen...«, nur das Hausaufgabentrio ließ er aus.
Doch er irrte sich, wie sich später zeigte, denn als meine Hanmer-Generation
herangewachsen war, gab es in der Landwirtschaft kaum noch Arbeit. Das
arbeitsintensive System von Ackerbau und Viehzucht war zusammengebrochen, die
Bauern hatten sich auf Maschinen umgestellt, und die Kinder, die Mr. Palmer in
fast völliger Unkenntnis des Lesens, Schreibens und Rechnens gelassen hatte,
mußten sich weiterbilden und fortgehen. Damals aber, Ende der vierziger Jahre,
hielten wir Kinder Mr. Palmer für allwissend. Er herrschte über eine kleine
Welt, in der Gehorsam, Ratlosigkeit, Angst und heimliche Aufsässigkeit an der
Tagesordnung waren. Jedes Kind an der Schule von Hanmer war bestrebt, nur ja
nicht aufzufallen, weder bei ihm noch bei Miss Myra oder Miss Daisy. Wir
stellten uns dumm — die einzige Lektion, die alle lernten.
    Wir müssen ein trauriger Verein
gewesen sein: mürrisch, teilnahmslos, Erwachsenen gegenüber schüchtern oder
kicherig, ein Haufen von Nasebohrern und Nägelkauern mit verschorften Knien,
Warzen und ungeputzten Zähnen. Mit anderen Worten: Wir hatten eine gewisse
Familienähnlichkeit. Biologisch war sie zum Teil auch ganz real, denn sieben
oder acht Großfamilien stellten fast die halbe Schülerzahl. Diese Brüder und
Schwestern, Vettern und Kusinen schubsten, schlugen und tyrannisierten einander
gnadenlos, traten am Ende aber immer für ihr eigen Fleisch und (durch Inzest
verdicktes, so ging das Gerücht) Blut ein. »Laß unsere Doreen in Ruhe!« Oder
dergleichen.
    Große Brüder oder (noch viel
besser) große Schwestern zu haben — denn die großen Jungen hatten ihren eigenen
Schulhof und ließen sich selten herbei einzugreifen — war in der ersten Klasse,
so schien es, die Grundvoraussetzung fürs Überleben. Bei Licht besehen, waren
diese ruppigen, schützenden Clans jedoch bereits im Aussterben begriffen. Nicht
wenige Eltern waren zu der Erkenntnis gelangt, daß man der Armut unter anderem
dadurch entgehen konnte, daß man weniger Kinder bekam, und ein scharfer
Beobachter hätte in der Masse rüpelhafter, rotznasiger Bälger eine kleine
Unterart besser gekleideter, zimperlicherer und eine Spur anständigerer Kinder
ausmachen können. Die Mädchen trugen Haarspangen und neue Strickjacken, die
Jungen waren »nesh« (das Hanmer-Wort für alles mögliche, von »sauber« über
»verfroren« bis hin zu »feige«) und wurden unentwegt

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