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Die Anfänge meiner Welt

Die Anfänge meiner Welt

Titel: Die Anfänge meiner Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lorna Sage
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gepiesackt. Einzelkind zu
sein — wie ich damals noch — war in der rauhen Wirklichkeit des Schulhofes
bestenfalls ein zweischneidiges Schwert. Die Jungen, die »nesh« waren,
verachtete ich, und das beruhte voll und ganz auf Gegenseitigkeit, denn ich war
schmutzig und frühreif, und man hatte mich nie wie ein Kind behandelt. Ich
wiederum wurde von den Clans verachtet, weil ich allein war, dem Anschein nach
sauber und »hochnäsig«.
    Der Schulhof war die Hölle:
Brennessel, Zwicken, Schläge, Fußtritte und fürchterliche Spiele. Ich höre noch
das dicke, nasse Springseil auf den Boden klatschen. Zwei von den großen
Mädchen schwangen es, und man mußte hindurchhüpfen, ohne sich darin zu
verfangen. Mitzumachen war kaum weniger schrecklich als ausgeschlossen zu
werden. Man sagt (zu Recht), die meisten Frauen vergessen die Schmerzen einer
Entbindung wieder, und ich glaube, wir alle vergessen den Schmerz der ersten
Schulzeit, das schiere Unvermögen, als würde man nie lernen, sein Terrain
abzustecken. Es ist doppelt beschämend — beschämend, auch nur daran
zurückzudenken, solches Mitleid zu empfinden für das eigene schorfige Ich im
Fegefeuer der Kleinen.
    Meine ersten Tage in der Schule
waren von wilden Kämpfen auf dem Schulhof untermalt, regelrechten Duellen vor
Zuschauern, mit dem einzigen Mädchen, das eigentlich meine Freundin hätte werden
können. Jahre später wurde sie es auch, meine beste Freundin sogar, mit der ich
händchenhaltend — so fest, daß es weh tat — und hysterisch kichernd herumlief.
Noch aber war sie meine Todfeindin. Gail (sie hatte sogar wie ich einen
komischen Namen) war ein knappes Jahr älter als ich. Sie hatte gelocktes Haar,
grünbraune Augen, einen blassen, klaren, ins Oliv spielenden Teint, und ihre
Haut spannte sich straff und glänzend über den Muskeln. Sie hätte unseren Krieg
in jedem Fall gewonnen, weil sie körperlich so geschickt war, schon mit fünf
Jahren. Hatte sie damals schon Ballettstunden? Jedenfalls wurde sie später
Lehrerin für Sport und Modern Dance, und auch als wir schon dicke Freundinnen
waren, gewann sie noch manchen Streit, indem sie mir das Handgelenk verdrehte.
Sie war nicht nur besser im Grimassenschneiden, Haareziehen, Zwicken, Kratzen,
überhaupt in jeglicher Form von Gewaltanwendung, sie war auch drahtig und
graziös, und ich kam mir neben ihr vor wie eine Gliederpuppe.
    Sobald sie mich vor aller Augen
vernichtend geschlagen hatte, beachtete sie mich nicht mehr und hielt in ihrer
Ecke hof. Trotzdem blieb sie in gewisser Weise eine Einzelgängerin. Andere
Mädchen bewunderten zwar ihre Locken, ihre Kleider mit den gesmokten Passen und
ihre weißen, nie rutschenden Socken, aber sie durfte nach der Schule nicht
draußen spielen, und alle wußten, daß sie abends stundenlang stillsitzen mußte,
während ihre Großmutter ihr mit Lockenwicklern aus Stoffresten das Haar
aufdrehte. Was sie jedoch am meisten von den anderen trennte — noch mehr als
das Pfarrhaus mich — , war der Umstand, daß ihre Mutter geschieden war.
    Angesichts der Tatsache, daß
viele Kinder in Hanmer nicht wußten, wer ihr Vater war — oder zumindest wußten,
daß es nicht der war, der es hätte sein sollen — , mag es seltsam erscheinen,
daß eine Scheidung als soziale Sünde galt. Das Problem dabei war das
Ungewohnte. Sich scheiden zu lassen war unüblich, es war neumodisch, und Gails
Mutter erhob sich damit über ihren Stand. Wenn eine Lady Kenyon (die Kenyons waren
die anderen Dorfgranden, weitaus reicher und mondäner als die Hanmers) sich
scheiden ließ, dann war das angemessen aristokratisch, bei der Tochter des
Tankstellenbesitzers aber lagen die Dinge anders. Wofür hielt sie sich? Man sah
in ihr so etwas wie einen neuen Typ des gefallenen Mädchens.
    Auch im Pfarrhaus sprach man
mißbilligend von ihr, aber vor allem aus Neid: Gail und meine Mutter waren vor
dem Krieg Freundinnen gewesen und hatten zusammen Hauptrollen in den
Theaterstücken gespielt, die mein Großvater im Gemeindesaal aufführte, bevor er
dem Suff und der Verbitterung anheimfiel. Meine Mutter — sie hieß Valma; auch
einer von Grandpas romantischen Einfällen, aber ich habe nie erfahren, wie er
darauf kam — und Gails Mutter, die Ivy hieß, waren Aschenputtel und Königssohn
gewesen. Auf einem Foto stehen sie inmitten der Theatertruppe, zwei schlanke
junge Frauen, den Arm um die Taille der anderen gelegt, das hoffnungsvolle
Lippenstiftlächeln schwarz und verführerisch. Gails Mutter hatte sich

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