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Die Anfänge meiner Welt

Die Anfänge meiner Welt

Titel: Die Anfänge meiner Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lorna Sage
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schlecht
schmecke.
    Sie hatte keine Zähne mehr und
konnte eine schauerliche Grimasse schneiden, indem sie ihr künstliches Gebiß
samt Zahnfleisch zu einem gefräßigen Grinsen aus dem Mund schob. Doch die
Clownerie hatte einen sehr realen Hintergrund: Alles an Grandma war Gier. In
den Jahren der Lebensmittelrationierung lechzte sie nach Süßem. Die
Zuckerknappheit hat vermutlich die verheerenden Auswirkungen des Diabetes, die
sie später peinigten, hinausgezögert, denn als es wieder genug gab, konnte sie
einfach nicht widerstehen. Sie fühlte sich weich und ein wenig pulverig an, als
wäre sie wie eine Biskuitrolle mit Puderzucker bestäubt. Sie hegte die vornehme
Verachtung ihrer Generation für Sonnenbräune und Sommersprossen, und wegen
ihrer nächtlichen Lebensweise war ihre Haut gespenstisch bleich. Und so, wie
sie steif und fest behauptete, Wasser und Seife seien nichts für ihre zarte
Haut, beharrte sie auch darauf, daß sie kein faseriges Fleisch und Gemüse kauen
oder verdauen könne und deshalb von dünnen Butterbrotscheiben ohne Kruste leben
müsse, wenn sie schon keine Obstkuchen und Biskuittörtchen bekomme. Zucker, Zimt
und Mandelkern, sagte sie immer zu mir, daraus seien kleine Mädchen gemacht —
und ich wußte, daß sie dabei an schöne braune Zimtsterne dachte. Durch ihr
Kränkeln war sie gewissermaßen zum Kind gealtert: eine dicke Puppe, die auf
winzigen geschwollenen Füßen dahintrippelte. Aber im Grunde war sie nie etwas
anderes gewesen; sie lebte nach wie vor im Haus ihrer Mutter im Rhondda-Tal,
zusammen mit ihrer Schwester Katie. Eine so mächtige Aura der Sehnsucht umgab
diesen Ort, daß er eigentlich ein reines Phantasiegebilde hätte sein müssen,
bestenfalls eine bloße Erinnerung. Aber dem war nicht so. Ihre Mutter war zwar
tot, doch das Zuhause existierte noch.
    In den Sommerferien fuhren wir
immer dorthin, Grandma, meine Mutter und ich; Grandpa nahmen wir nicht mit. (»Ihn
im eigenen Saft schmoren lassen«, so nannte sich das.) In unserer
Familienmythologie war Südwales trotz der Bergwerke und Grubenarbeiter ein
durch und durch weibliches Land. Ein weiblicher Ort, ein städtischer Ort, ein
Ort, an dem sich das Leben ausschließlich im Haus abspielte. Aus all diesen
Gründen war es, als tauchte man dort in eine Phantasiewelt ein — vor allem aber
aus einem weiteren, ganz speziellen Grund: Grandmas Zuhause war ein Laden, und
wir wohnten darüber, und wenn wir dort waren, verlor das Geld wie durch
Zauberei seine Schrecken. Es war ein Leben vor dem Sündenfall, als wäre das
Bezahlen mit Geld noch nicht erfunden. Brauchte man ein Kotelett oder
Teegebäck, ging man einfach hinunter und nahm es sich, ohne auch nur die Straße
überqueren zu müssen. Der Laden war ein autarkes Reich, eine
Gemischtwarenhandlung, in der es beinahe alles gab, Blechtabletts und Orangen,
Rinderhälften, Wurst und ein umfangreiches Sortiment Lyons-Gebäck. Als Kind
hatte ich vollstes Verständnis für Grandmas Groll darüber, daß man sie
überredet hatte, diese Insel der Seligen gegen das Pfarrhaus und die
Alterungsschäden einzutauschen. Das Leben in den »Hereford Stores« — sie waren
nach dem Geburtsort ihrer Mutter benannt — war ihr Ideal von Luxus und
Vornehmheit, die Wurzel ihrer unerschütterlichen Überzeugung, etwas Besseres zu
sein.

    Ihr Begriff von Niveau war für
südwalisische Verhältnisse bemerkenswert klar und präzise. Wer ein Geschäft
besaß, in einem Ort, in dem fast jeder sein Geld unter Tage verdiente, gehörte
in ihrer Jugend tatsächlich zu den feinen Leuten. Schon allein der Umstand, daß
eine Frau nicht arbeitete , während alle anderen schuften mußten oder —
schlimmer noch — arbeitslos waren, machte sie zur »Dame«. Was konnte vornehmer
sein, als oben im ersten Stock dem Müßiggang zu frönen, Konfekt aus dem Laden
zu knabbern und sich die Locken auszubürsten? Grandma und Katie verwandten wie
früher Stunde um Stunde darauf, sich zum Ausgehen fertig zu machen — für eine
Fahrt nach Cardiff oder Pontypridd, in ein Café oder ins Kino — , die Welt
ihrer Kindheit Wiedererstehen zu lassen, die Zeit, bevor Männer und Geld
Realität geworden waren.
    Katie war Mitte Vierzig und
hatte nie geheiratet. Auch sie war ziemlich mollig und ein wenig kurzatmig,
doch ihr Haar war noch rot, sie hatte noch ihre eigenen Zähne, und ihr Lachen
trillerte melodisch, so daß sie Grandmas Überzeugung, ohne Männer sei man
besser dran, schon auf den ersten Blick zu bestätigen schien. Es

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