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Die Anfänge meiner Welt

Die Anfänge meiner Welt

Titel: Die Anfänge meiner Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lorna Sage
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Wahlmöglichkeiten in Form von Parlamentswahlen galten hier nicht viel,
und im Grunde zählten nur Orte, die zu Fuß oder mit dem Fahrrad zu erreichen
waren.
    Durch den Krieg hatte sich das
bis zu einem gewissen Grad geändert, wenn auch weniger als anderswo, denn die
Landwirtschaft war kriegswichtig, und Bauernsöhne wurden nicht eingezogen, es
sei denn, sie hatten viele Brüder oder ihre Familien waren Kleinbauern mit
wenig Land. So glich das Hanmer der vierziger in vieler Hinsicht dem Hanmer der
zwanziger Jahre oder gar dem des ausgehenden neunzehnten Jahrhunderts, nur daß
es heruntergekommener war, weniger Einwohner hatte und mit der Zeit immer
weiter zurückfiel. Da wir auch nicht Walisisch sprachen, war es mit unserem
Nationalstolz nicht weit her; man hatte eher das Gefühl, daß man nun einmal
hierhergehörte, und damit basta. Ganz unwalisisch war auch die Tatsache, daß es
in Hanmer keine zweite Kirche gab, die mit Großvaters Kirche hätte konkurrieren
können. Die Hanmers hätten niemals Land an Nonkonformisten verpachtet, und so
hatte der Ort keine nicht-anglikanische Tradition, außer in der Form, daß man
überhaupt nicht in die Kirche ging. Doch Grandpas Gottesdienste waren gut
besucht, teils weil er in der Gegend für seine Predigten berühmt war, teils
weil er als Hochkirchler viel für pompöse Gewänder, Ministranten und häufige
Kommunion übrig hatte. Nicht häufig genug allerdings, um seinen Weinkonsum zu
rechtfertigen. Schließlich drehte ihm die Kirche den Hahn zu, und die
Kommunikanten bekamen verdünnten Sanatogen-Saft von Boots, dem Apotheker in
Whitchurch, jenseits der Grenze zu Shropshire.
    Die Verfehlungen, die Grandpa
von einer Beförderung ausgeschlossen hatten, schienen ihm bei seinen
Pfarrkindern nicht weiter zu schaden. Vielleicht erwartete man vom Pfarrer, daß
er Experte in Sachen Sünde war. Auf jeden Fall war er eine »Persönlichkeit«.
Aus meiner kindlichen Sicht lebten in Hanmer zwei Kategorien von Menschen: die
Persönlichkeiten und die anderen, die einen und die vielen. Weiter oben auf der
sozialen Stufenleiter gab es immer nur einen: einen Pfarrer und einen
Rechtsanwalt, und da jeder Bauer den Namen seines Hofes trug, war er ebenfalls
einzigartig. Ärzte gab es allerdings zwei, aber sie waren Brüder und führten
ihre Praxis gemeinsam. Dann waren da noch ein Polizist, ein Gastwirt, eine
Gemeindeschwester, ein Fleischer, ein Bäcker... Kleinbauern und Knechte waren
die vielen und hatten oft auch große Familien. Sie standen unabänderlich im
Plural (Nichtsnutze allesamt) und waren nur als Sippe zu benennen. Bei den
Singularleuten wurden Tugenden und Laster zu Charaktereigenschaften. Sie waren
originell. Sie hatten keinen gemeinsamen Nenner. In Hanmer aufzuwachsen war
anfangs etwas seltsam Schönes: Die Erwachsenen spielten ihre Rollen, als hätten
sie ihr Leben lang nichts anderes getan. Man wußte, wo man war.
    In einem öden Kaff, wenn man
Grandma fragte. Einem Misthaufen. Den Leuten, die sonntags auf dem Weg zur
Kirche am Pfarrhaus vorbeigingen, drohte sie mit zitternder Faust, obwohl man
sie hinter den Fenstergittern und den verschmutzten Scheiben vermutlich nicht
sah. Aber sie konnte meine Vorstellung von ländlicher Idylle nicht erschüttern.
Sie lebte in einer anderen Sphäre, wie sie selbst sagte. In ihrer Welt gab es
Straßen mit Bürgersteigen, Schaufenstern, Trambahnen, Kinos und Cafés. Sie ging
nur aus dem Haus, um sich in dieses verlorene Paradies zu begeben — mit dem
Taxi nach Whitchurch und weiter mit dem Zug nach Shrewsbury oder Chester. Das
war das Leben. In der übrigen Zeit dienten parfümierte Seife und
Pralinen als Ersatz — die meiste Zeit jedenfalls, denn es war nie Geld da. Sie
hatte einen Lebensstil entwickelt, der ihrem Schicksal eisern trotzte. Sollte
ihr Mann ruhig den Pfarrer spielen — sie dachte gar nicht daran, die
Pfarrersfrau zu sein. Die Zimmer der beiden lagen an entgegengesetzten Enden
des Hauses, und sie verbrachte einen großen Teil des Tages im Bett. Sie hatte
Asthma, und schon von Grandpas Geruch und dem seines Tabaks wurde ihr übel.
Abends blieb sie lange auf, saß zwischen Mäusen und Silberfischchen allein in
der Küche und las bei Lampenlicht in den News of the World von Morden
und Skandalen (in ihrem Zimmer oben hortete sie Kohle und Anmachholz, um das
Feuer bei Bedarf wieder zu entzünden). Sie machte nie auf, wenn es an der
Haustür klopfte, traf sich mit niemandem, rührte im Haushalt keinen Finger. Die
einzigen

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