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Die Anfänge meiner Welt

Die Anfänge meiner Welt

Titel: Die Anfänge meiner Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lorna Sage
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sich eine so günstige Gelegenheit, andere Kinder auf
mein Terrain zu locken.
    Doch wenn ich an diese Zeit
zurückdenke, bestimmen nicht solch berauschend verbotene Spiele die Atmosphäre,
sondern andere, viel alltäglichere Erinnerungen — daran beispielsweise, wie
wir, alle mit feuchten wollenen Teufelsmützen auf dem Kopf, an eisigen
Wintertagen in einer Reihe standen und uns die Frostbeulen rieben, während wir
darauf warteten, daß man uns in den Gemeindesaal hinüberführte, wo die
obligatorische Schulspeisung — Walfleischeintopf — ausgeteilt wurde. Der
Gedanke daran ruft eine Mischung aus Angst und Sehnsucht hervor, für mich der
Inbegriff von Schule.
    Nach und nach gewann die Angst
die Oberhand. Ich wurde ein furchtsames, unbeholfenes, sprachloses Kind —
qualvoll schüchtern. In meinem letzten Schuljahr in Hanmer versprach Mr.
Palmer, mir jedesmal ein Sixpencestück zu geben, wenn er etwas zu mir sagen
konnte, ohne daß ich zu weinen anfing. Ich glaube, ich bekam einen Shilling
zusammen. Ich lebte mehr und mehr in Büchern. Sie waren Trost, Zuflucht, Sucht
und Ausgleich für die Demütigungen, die der Kontakt zur Außenwelt mit sich
brachte. Aber sie hatten genaugenommen nichts mit der Schule zu tun, nicht mit
dieser Schule. In den Dingen, die ich lernen sollte — ordentlich, sauber,
gewandt, gehorsam und pünktlich zu sein — , war ich eine absolute Niete. Meine
Näharbeit verwandelte sich in einen schmuddeligen Lappen, so oft wurde sie
wieder aufgetrennt, mein Strickzeug hatte Laufmaschen, ich konnte keine Zeile
schreiben, ohne einen Tintenklecks zu machen. Als ich mit zehn die Prüfung für
die höhere Schule schaffte, stand ich deshalb vor einem Rätsel und war
überzeugt, es müsse sich um einen Irrtum handeln, den man früher oder später
aufdecken werde.
    Das geschah nicht und ist wohl
bis heute nicht geschehen. Doch die Schule in Hanmer hat meine Vorstellungswelt
geprägt. Einmal zum Beispiel, im Mathematikunterricht auf dem Gymnasium, brach
ich wegen der Minuszahlen in Schluchzen aus. Minus eins ließ meine Welt
einstürzen, ich konnte nicht mehr weiterleben, ich konnte es nicht verstehen.
Das lag daran, so wurde mir unter dem Zureden eines belustigten (und leicht
verwunderten) Lehrers klar, daß ich glaubte, Zahlen seien Gegenstände. Kohlköpfe, um genau zu sein. Bei Miss Myra hatten wir gelernt, uns beim
Addieren und Subtrahieren mehr Kohlköpfe und weniger Kohlköpfe vorzustellen.
Beim Kopfrechnen jonglierte ich stets mit imaginärem Gemüse. Und wenn ich mir
minus eins vorstellen wollte, versuchte ich mir einen Antikohlkopf
vorzustellen, einen Kohlkopf aus Antimaterie, so unbegreiflich wie ein
alternatives Universum.

Grandma zu Hause
     
     
     
     
    Hanmers hübscher kleiner See,
die ansteigenden Wiesen rings um das Dorf und die von Rotdorn, Geißblatt und
Wildrosen überwucherten Hecken an den Wegen hätten, was Grandma betraf, auch
eine raffinierte Täuschung sein können. In ihren Augen machten sie die Ödnis
des Landlebens kein bißchen erträglicher. Grandma lebte wie eine Gefangene, ein
Flüchtling aus der Stadt, freiwillig eingekerkert hinter den Fenstergittern und
-läden des Pfarrhauses. Keine meiner Schulfreundinnen durfte das Haus betreten.
In den Pfarrgarten gelangte man durch den seitlichen Hof oder — so machten wir
es — indem man über die Mauer kletterte. Das mußte heimlich geschehen, denn die
anderen Rinder durften eigentlich gar nicht existieren, so wenig wie die
malerische Kulisse mit dem See, den Bäumen und den Kühen. Meine Großeltern
lebten unterdessen wie gewohnt weiter, voneinander getrennt, jeder in seiner
eigenen Sphäre: Grandpa in Kirche, Kneipen und Büchern, Grandma in Träumen vom
heimatlichen Südwales in parfümgeschwängerter Schlafzimmerluft, Träumen von
Tonypandy im Rhondda-Tal — Namen, deren walisische Ds so weich ausgesprochen
wurden, daß sie geradezu fremdländisch klangen.
    Grandmas Walisisch war ein
Singsang — träge, ölig, unversehens ins Drohende umschlagend. Das Asthma
verlieh ihren Flüchen eine heisere Heftigkeit, und wenn sie lachte, verfiel sie
in ein krampfartiges Keuchen und mußte zum Riechsalz greifen. Sie hatte ein
Repertoire an kuriosen Sprüchen, über die sie jedesmal selbst lachen mußte.
Fragte man sie nach der Uhrzeit, sagte sie beispielsweise: »Gerade hat’s Elefant
geschlagen!« und gackerte triumphierend los. Bei dem Wort »you« spitzte sie
ihren kleinen Mund, wie um zu prüfen, ob ihr Gegenüber gut oder

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