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Die Anfänge meiner Welt

Die Anfänge meiner Welt

Titel: Die Anfänge meiner Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lorna Sage
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ersticken konnte,
wovor sie uns schaudernd warnte. Selten brachte sie es über sich, von diesem
Fraß zu essen, nur gelegentlich sezierte sie mit spitzen Fingern ein kleines
Stück Fleisch auf ihrem Teller und stellte — zutreffend — fest, daß selbst
Teile ohne Knochen zäh und sehnig waren.
    Man hätte sie für eine
angehende Vegetarierin halten können, doch daß wir das Fleisch derselben Lämmer
aßen, die mit Dads Lastwagen blökend zum Markt gebracht wurden, ließ sie völlig
kalt. Nutztiere interessierten sie nicht. Und Gemüse hielt sie für noch
widerspenstiger als Fleisch. Es mußte den ganzen Vormittag kochen, speziell grünes
Gemüse wie Rosenkohl, das extrem salzig wurde, am Topf klebte, wenn das Wasser
verkocht war, und sich in gelbes Mus verwandelte. Kartoffeln ließ sie die
gleiche Behandlung angedeihen, und wenn sie das Sonntagsessen aufgetischt
hatte, hob sie den Deckel mit dem rituellen Ruf: »Das ist ja das reine Nichts!«
Das wurde zum Familienscherz, zu einem unsterblichen Spruch, der später in
meinem Kopf auf wundersame Weise mit den pfiffigsten intellektuellen Slogans
der fünfziger Jahre verschmolz. Das reine Nichts war herrlich absurd,
eine Wendung von existentialistischer, geradezu Beckettscher Kraft. Wie
glücklich wäre meine Mutter gewesen, wenn diese schrecklichen Knollen mit ihren
vielen Augen wirklich zu einem reinen Nichts geworden wären! Doch nein: Der
graue Matsch am Grund des Topfes mußte wohl oder übel auf unsere Teller
verteilt werden.
    Ein Essen dieser Größenordnung
gab es nur einmal in der Woche, doch da wir es bis in die sechziger Jahre
hinein so hielten, kann ich mich noch an das Rezept meiner Mutter für
Bratensoße mit Klümpchen erinnern. Man nehme die Kasserolle mit dem Fett, in
dem das Fleisch verkohlt ist, gebe das Gemüsewasser (da nie genug davon übrig
ist, strecke man es mit kaltem Leitungswasser) und Mehl hinzu, lasse die Soße
ein Weile kochen und treibe währenddessen die Klümpchen mit dem Kochlöffel an
den Rand, um sie zu zerdrücken und auf diese Weise zu vermehren. Um
Verwechslungen auszuschließen, rühre man sodann Soßenpulver ein und serviere
das Essen schließlich mit einem Seufzer.
    Aber zum Glück lebt der Mensch
nicht vom Sonntagsmahl allein. Die Fertiggerichte, die mit dem Ende der
Lebensmittelrationierung aufkamen, waren eine Offenbarung für uns — die ganze
lange Liste der Speisen, die man nicht zu kochen brauchte und die man essen
konnte, wann immer man wollte. Zum Beispiel: Schinken und Zunge in
durchsichtigen Scheiben; Sandwiches mit Fleischpaste, Fischpaste oder Bananen;
Kondensmilch, Corned beef, Sardinen, Baked Beans, Spaghetti oder auch
Pfirsiche, Birnen, Pflaumen und Obstsalat mit lila »Kirschen« in Dosen. Diese
Leckereien — ergänzt durch Cornflakes, Puffweizen, Vollkornkekse, Cracker,
Chips und Süßigkeiten — waren nun unsere Grundnahrung. Aus alter Gewohnheit
nannten wir sie »Rationen«, und sie wurden einmal wöchentlich vom
Lebensmittelhändler ins Haus geliefert.
    Auf dem Essenssektor spielten
die Kräfte des Marktes meiner Mutter also in die Hände. Ich glaube mich zu
erinnern, daß sie etwas mit einem Verbrauchertest für Fischstäbchen zu tun
hatte und ihnen, wie nicht anders zu erwarten, eine glänzende Zukunft
prophezeite. Fisch muß für sie die schlimmste Gabe der Natur gewesen sein —
nichts als Schuppen, Flossen und Gräten und ganz besonders nahrhaft, so daß man
nicht umhinkam, sich damit herumzuschlagen. Mit Fischstäbchen aber wurde die
Natur grandios ausgetrickst. Schon der Name spottete der widersinnigen
Konstruktion, die sich die Evolution für den Fisch ausgedacht hat, und das
grätenfreie Innere gab keinerlei Anlaß zur Sorge mehr. Nicht einmal eine Soße
brauchte man dazu.
    Mit dem Essen wurde es also im
Laufe der Zeit einfacher. Nicht alle unsere Mahlzeiten orientierten sich am
Ideal der Fischstäbchen. Zum Beispiel konnte es mit dem Toast knifflig werden
(ich war schon fast erwachsen, als ich erfuhr, daß man die Scheiben gar nicht
schwarz werden lassen und das Verbrannte dann mit dem Messer abkratzen muß),
aber meine Mutter wußte nun wenigstens, was sie uns vorsetzen sollte, auch wenn
man sich an scharfkantigen Krusten verschlucken und Krümel in den falschen Hals
bekommen konnte.
    Was sie selbst hinunterbrachte,
stand auf einem anderen Blatt. Es fiel ihr wesentlich leichter, ihre Ängste um
uns zu besänftigen, als ihren eigenen Widerwillen zu überwinden. Sie hungerte
zwar nicht, aber

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