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Die Anfänge meiner Welt

Die Anfänge meiner Welt

Titel: Die Anfänge meiner Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lorna Sage
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geblümten
Seitentaschen, Strohhut und bändergeschmücktem Hirtenstab. Da stehe ich — mit
Valerie in ihrer patriotischen rot-weiß-blauen Kreppapier-Krinoline und Gail
als Tambourmajorin in Weiß und Gold — auf den Schwarzweißfotos dieses
traditionell verregneten Tages und grinse erfreut und verlegen — der Tribut
meiner Mutter an die Schäferromantik.

    Phantasie war ihre Domäne; sie
versüßte sich ihr Dasein mit Tagträumen. Fehlende praktische Veranlagung hatte
auch eine positive Seite. Mein Vater war der realistische Mann, sie war seine
Ergänzung: für weibliche Einbildungskraft war sie zuständig. Das Abwesende,
Zerfahrene ihres Alltags-Ichs — »meilenweit weg«, pflegte sie in aller Unschuld
von sich selbst zu sagen — verlieh ihr die Ausstrahlung einer Kindfrau, der
Tochter des Hauses. Vielleicht protestierte mein Vater deshalb nicht
energischer dagegen, daß Grandma bei uns wohnte. Denn irgendwie paßte es ja:
Grandma hat zwar nie einen Finger gerührt, aber sie hat meine Mutter in der
Rolle der ewigen Tochter, die immer kurz davor steht, ins Leben hinauszutreten,
bestärkt. Die Heirat hatte meine Mutter noch mehr auf diese Rolle festgelegt,
und sie war womöglich noch furchtsamer geworden, aber ihr Selbstvertrauen hatte
schon einen Knacks bekommen, als sie etwa sechzehn war, in dem Jahr, als
Grandpa die Affäre mit ihrer Freundin Marj hatte und sie sich auf Grandmas
Seite schlug.
    Sie hatte das Interesse am
Lernen verloren, war vorzeitig von der Schule abgegangen und hatte diverse gerade
noch standesgemäße Verlegenheitsjobs gehabt (Verkäuferin bei Dudleston zum
Beispiel, dem altmodischen Textilgeschäft in Whitchurch), doch das war lange
vor ihrer Heirat. Die Ernsthaftigkeit meines Vaters, sein distanziertes
Verhältnis zu seiner Familie, sein fanatischer Ordnungssinn und seine
fürsorgliche Ritterlichkeit müssen ihr geradezu als ein Hort der Geborgenheit
erschienen sein. Sie war strikt monogam, als glaubte sie, jeder könne nur einem
einzigen anderen Menschen sein Innerstes offenbaren. So hielt sie selbst es,
und sie verurteilte noch das kleinste Anzeichen von Promiskuität bei anderen.
Sie und mein Vater waren in Hanmer praktisch Fremde, aber diese Isolation war
ihr durchaus willkommen.
    Sie schlossen keine engen
Freundschaften in diesen ersten Jahren. Ihre Verbindung war ganz nach innen
gewandt. Später, als sie sich in ihrem Leben eingerichtet hatten, übernahmen
sie auch öffentliche Aufgaben — er in der British Legion und im
Spediteursverband, sie in der Theatergruppe der Frauenvereinigung, in der sie
eine maßgebliche Rolle spielte. Doch sie schwächten ihre Beziehung nie, indem
sie als Paar auftraten. Mann und Frau, Realist und Träumerin... In Wahrheit
waren sie mehr als nur ein Fleisch, sie hatten einander geformt und gestützt,
und für mich und meinen Bruder war es alles andere als einfach, uns in ihrer
Gemeinsamkeit zu behaupten. Ich spielte regelmäßig das gescheite, ungeliebte
Kind, das fortgeschickt wird und sich im Wald verirrt, seinen Weg aber trotzdem
findet. Kinder aus extrem unglücklichen Ehen, wie meine Mutter, sind oft fürs
ganze Leben geschädigt, aber Kinder aus glücklicheren Ehen haben auch ihre
Probleme.

Landleben
     
     
     
     
    In der Schule in Hanmer hatten
wir nur ein einziges Mal Erdkunde gehabt, eines sonnigen Morgens, als Mr. Palmer
mit großer Geste eine glänzende, rissige, blau-grün-braune Landkarte an die
Tafel neben dem Pult hängte, Platz nahm und in die Runde blickte, wobei er sich
mit dem Zeigestab leicht auf die Handfläche klopfte. Erdkunde war ein Spiel. Er
rief den Namen einer Stadt — Manchester oder Swansea oder Carlisle — , und wir
mußten einer nach dem anderen nach vorn kommen und darauf zeigen. Auf jeden
unschlüssig umherirrenden Finger sauste Mr. Palmers Stock herab. Die meisten
von uns hatten natürlich keine Ahnung; wir hatten ja noch nie eine Karte der
Britischen Inseln gesehen. Man konnte in diesem Spiel nur dann gewinnen, wenn
man ganz langsam nach vorn ging und die Stadt rechtzeitig erspähte, doch da die
meisten Kinder nicht gut (oder überhaupt nicht) lesen konnten, half das wenig.
Ich mußte eine Stadt mit B finden (Bolton oder Blackburn oder Birkenhead oder
Birmingham), und ich fand sie auch, aber ich mußte trotzdem weinen, wie immer.
Von Erdkunde bekamen wir an diesem Tag nicht allzuviel mit, aber etwas lernten
wir doch, die immer gleiche Lektion: zu wissen, wohin wir gehörten. Hanmer war
nicht auf der Karte

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