Die Anfänge meiner Welt
sie naschte und knabberte sich durch den Tag, meist wenn sie
allein war, nach einem geheimen System wechselnder Tabus. Nur gelegentlich
entwickelte sie eine kompensatorische Sucht und stopfte sich mit etwas
Scharfem, Absurdem voll, eingelegten Zwiebeln etwa, von denen sie fürchterliche
Magenkrämpfe bekam, oder extrascharfen Pfefferminzbonbons, die ihr
Halsschmerzen verursachten. Sie konnte nicht einfach essen oder es bleiben
lassen, denn hinter ihren Essensängsten verbarg sich eine größere,
unbestimmtere Angst. Das Haus war nicht ihr Reich, der ständige Kampf mit den
Tücken des Alltags machte es zu einem Schlachtfeld, das sie nur zu gern hinter
sich gelassen hätte.
Aber — und das war der Haken an
der Sache — die Welt vor ihrer Haustür war ebenfalls bedrohlich, sie war alles
andere als ein Fertiggericht. Tausend Gefahren lauerten dort: Stiere,
Stacheldraht, Wasser, Schlangen, Insekten, Brennesseln. Das Land ringsum war
roh und nichtssagend, es stand ihr nicht offen (das Radfahren hatte sie ja
verlernt), es war draußen, aber nicht woanders, nicht das, worauf sich ihre
Sehnsucht, »aus dem Haus zu kommen«, richtete. Ihre Angst vor dem Essen — die
Angst, das Draußen könnte nach drinnen kommen, bestimmte ihr ganzes Wesen als
Frau. Trotz ihres eklatanten Mangels an hausfraulichen Tugenden war sie
zutiefst domestiziert. Eine jungfräuliche Verletzlichkeit und die Angst vor
allem, was eindringen konnte, umgaben sie wie eine Mauer.
Familienausflüge hatten vor
diesem Hintergrund eine ungeheure Bedeutung. Sie fanden samstagnachmittags
statt, wenn sich mein Vater überreden ließ, die Arbeit ausnahmsweise ruhen zu
lassen. Er tat es jedoch äußerst widerwillig, und bis er endlich nach Hause
kam, sich Dreck und Motoröl abgewaschen, gegessen und sich umgezogen hatte,
waren wir schon seit Stunden ausgehfertig, und mein Bruder und ich hatten
reichlich Gelegenheit gehabt, unsere guten Sachen schmutzig zu machen. Meine
Mutter, die ohnehin schon vor Ungeduld schier platzte, brach in Tränen aus, und
es dauerte noch länger, denn wir wurden erst noch ausgeschimpft — von meinem
Vater bekamen wir manchmal auch Ohrfeigen — und mußten von neuem gewaschen und
feingemacht werden. Nachdem wir dann noch, wenn sie mitkam, auf Grandma
gewartet hatten — sie war nie rechtzeitig fertig, egal, wieviel Zeit sie gehabt
hatte — , löschte meine Mutter schließlich das Feuer (eine Lage Schlacke, eine
Lage Kohlenstaub und Wasser aus dem Teekessel), und wir stiegen ins Auto.
Manchmal fuhren wir nach
Wrexham oder Shrewsbury ins Kino, manchmal nach Chester, wo wir bei schönem
Wetter auf der römischen Stadtmauer spazierten und bei Regen durch die Rows
gingen, in der Kathedrale durch die düsteren Seitenschiffe mit den zerfetzten,
blutbefleckten Regimentsfahnen trotteten oder uns im Museum Römerfunde ansahen,
ägyptische Mumien, ausgestopfte Tiere, Rüstungen, Waffen, alte Kostüme... Was
es war, kümmerte meine Mutter nicht, Hauptsache, es war alt und erinnerte an
längst vergangene Zeiten. Sie liebte Burgen mit Zinnen und Verliesen;
abgewetzte Wandteppiche, Fenster mit Stabwerk und alte Bildnisse nährten ihre
hungrige Phantasie, und sie vergaß für eine Weile ihren frustrierenden Alltag.
Das eigentlich Exotische an diesen Ausflügen aber war die Tatsache, daß wir uns
alle zusammen in ein Café setzen und etwas essen konnten, meine Mutter
eingeschlossen. Sofern nur die Einrichtung aus Eiche war und ein Spinnrad in
der Ecke stand, vergaß sie ihre Angst vor dem Essen, und es schien ihr sogar zu
schmecken, auch wenn sie manchmal aus alter Gewohnheit in ihrem Welsh Rarebit
nach nichtvorhandenen Knochen stocherte.
Vielleicht ebenso seltsam, wenn
auch für die damalige Zeit nicht so ungewöhnlich, war es, daß sich manche
unserer Ausflugsziele kaum von Hanmer unterschieden: Dörfer mit schwarz-weißen
Häusern, das Seeufer in Ellesmere oder die Berge um Llangollen (die freilich
grandioser waren). Aber das war Landschaft, es war malerisch, etwas fürs Gemüt,
verwandelt vom Zauber der Ferne. Meine Mutter fand — und gewiß zu Recht — , daß
eine Landschaft etwas ganz anderes ist als eine ländliche Umgebung mit
Brennesseln und Stacheldraht. Sie schwärmte für ländliche Idylle. Als die
Kinder im Dorf sich zur Coronation-Day-Parade von 1953 verkleiden sollten,
machte sie mir (unter großen Mühen, denn sie konnte eigentlich gar nicht nähen)
ein recht passables Schäferinnenkostüm mit schwarzem Schnürmieder,
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