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Die Anfänge meiner Welt

Die Anfänge meiner Welt

Titel: Die Anfänge meiner Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lorna Sage
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eingezeichnet, und in Hanmer waren wir. Mr. Palmer zufolge
würden die meisten von uns später die Mistgabel schwingen. Nur zwei oder drei,
auch sie Figuren in dem Spiel, würden ungeschoren davonkommen — fürs erste.
    Die schönsten Momente erlebten
wir in der Schule, wenn niemand so tat, als würde uns etwas beigebracht, wenn
dem Spaß keine Strafe folgte — beim Einsingen für die Weihnachtsfeier
beispielsweise, wenn Mr. Palmer, ein strahlendes Scheusal, mit uns
Weihnachtslieder übte und Nonsenslieder, die mit einem ohrenbetäubenden
hysterischen Refrain endeten: »Ooooh, der Okey Cokey! Der frißt euch alle AUF!«
Oder im Sommer in der Turnstunde, wenn wir eine an die Friedhofsmauer gelehnte
Bank hinaufrannten, durch Winden und Brennesseln hindurch ein paar Gräber
umrundeten — diese in den Schulhof hineinragende Ecke des Friedhofs wurde seit
hundert Jahren nicht mehr benutzt — und über eine zweite Bank wieder hinunterliefen.
Oder an dem eisigen Wintertag, als die großen Jungen mit Eimern voll Wasser
hinausgeschickt wurden, um auf der Wiese unterhalb des Fahrradschuppens eine
Rutschbahn anzulegen, auf der wir nacheinander schlitterten und das lange grüne
Gras bestaunten, das aussah, als würde es wie Seetang im Eis unter unseren
Füßen dahinfließen.
    Mein Bruder hatte seine
schulische Laufbahn inzwischen ebenfalls begonnen und sollte bald in die Ränge
jener aufsteigen, die Koks für die gußeisernen Öfen in den Klassenzimmern
heranschafften — möglicherweise gemäß Mr. Palmers Theorie der erblichen Berufe,
denn Clive schlug nach Meinung aller ganz nach den Stocktons. Von seiner
Schulzeit in Hanmer blieb ihm ein Hang zu heftigen Wutanfällen. Bei mir selbst
führten die Irrungen, Wirrungen und Bedrohungen der Schule zu chronischer
Unaufrichtigkeit. Wir lernten dort, allenfalls Seitenblicke zu riskieren, die
autoritäre Welt der Erwachsenen lieber nicht genauer ins Auge zu fassen,
sondern den Blick starr auf einen unsichtbaren Punkt zwischen uns und ihnen zu
richten. Wir lernten, uns dumm zu stellen, und ich machte da keine Ausnahme.
Mr. Palmer frisierte zwar meine Noten, so daß sie meinem Pfarrhaus-IQ
entsprachen, aber ich hatte viel zuviel Angst vor ihm, um einen Verbündeten in
ihm zu sehen. Und Miss Myra und Miss Daisy hegten — was ich damals allerdings
nicht wußte — eine spezielle Abneigung gegen mich, die Enkelin des alten
Teufels, der ihre Nichte Marj verdorben hatte. Mein Interesse am Lesen und
Schreiben brachte mich den Lehrern auch nicht näher.
    Außerhalb der Schule leistete
der ausdruckslose Blick ebenfalls gute Dienste. Ich ließ diese Behandlung auch
meinen Eltern angedeihen, speziell meinem Vater, der darin ganz richtig eine
Form der Unbotmäßigkeit sah. Scheu und schlau lagen nahe beieinander. Ich hatte
von Grandpa (schlechtes Blut!) nicht nur den Bildungseifer, sondern auch
Hochmut, Ehrgeiz und Unzufriedenheit geerbt. Ich begehrte auf. Dritten
gegenüber zeigten sich meine Eltern stolz darauf, daß ich so früh eingeschult
worden war, zu Hause aber war meine Sucht nach Gedrucktem nur Ausdruck meiner
allgemeinen Nichtswürdigkeit und insofern besonders ärgerlich, als sie machtlos
dagegen waren und auch noch auf meine Launen eingehen, die ganze Nacht das
Licht brennen lassen und mir eine Schuluniform kaufen mußten. Andere Eltern
hatten ihren Kindern üppige Belohnungen (eine Armbanduhr, eine neues Fahrrad)
versprochen, wenn sie die Prüfung bestanden. Meine versprachen mir nichts, denn
sie wußten, daß ich boshaft genug war, sie beim Wort zu nehmen.
    Aber ich hätte weder mit einer
Armbanduhr noch mit einem Fahrrad viel anfangen können. Ich konnte die Uhr
nicht lesen, was ich allerdings geheimhielt. Der Schmollwinkel, in dem ich
unfreiwillig lebte, schloß Uhren mit ein: Sowenig ich anderen Leuten in die
Augen schauen konnte, so wenig konnte ich einer Uhr ins Gesicht sehen. Ich
schielte so flüchtig und aus einem so unmöglichen Winkel darauf, daß ich gar
nichts richtig wahrnahm. Und ich kaschierte diesen seltsamen blinden Fleck
dadurch, daß ich immer wußte, ob es vor oder nach der vollen Stunde war und
welche Stunde es überhaupt war. Die Kirchturmuhr und klingelnde Wecker halfen
mir dabei. Daß ich von meinen mißmutigen Streifzügen ewig zu spät nach Hause
kam, hing mit meinem Uhrenproblem zusammen — ich kam nicht deshalb zu spät,
weil ich die Uhr nicht lesen konnte, sondern ich konnte die Uhr nicht lesen,
weil ich jeden Anlaß, zur Inspektion zu erscheinen,

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