Die Anfänge meiner Welt
beruhigende Routine einbezogen wurde und doch
jederzeit gehen konnte. Niemand wollte mich vereinnahmen. Die Watsons waren
Ende Vierzig, ihre Kinder waren aus dem Haus, bis auf Edgar, aber auch der
machte bereits Anstalten zu gehen. Edgar molk die besonders widerspenstigen
Kühe, und als ich ihm einmal dabei zuschaute, spritzte er mir die warme, süße,
klebrige Milch ins Gesicht. Das ging mir zu weit — ich fühlte mich plötzlich
bedrängt, unerträglich bedürftig und »nesh«. Wenn er nicht dabei war, durfte
ich hin und wieder eine von den gutmütigeren Kühen melken. Viel kam bei diesen
Versuchen nicht heraus, ich hatte nicht genug Kraft in den Fingern und fand
nicht in den Rhythmus, der die Milch mühelos in den Eimer zischen ließ. Aber
ich lernte, die Hinterbeine zweier Kühe, die gern traten — eine von ihnen hatte
den Spitznamen Jezebel — , mit Lederriemen zusammenzuschnallen. So weit drang
ich immerhin in die Mysterien des Melkens ein.
Da Mr. Watson ein gemütlicher
Mann war und sich nicht daran störte, wenn ich mich ungeschickt anstellte, war
ich in seiner Nähe viel weniger ungeschickt. Er nannte mich ein verrücktes
Huhn, wenn er mich mit der Nase in einem Buch im Heu sitzen sah (zu viel Lesen
machte ja bekanntlich dumm), und ließ mich gewähren. Mr. Watson arbeitete hart,
aber der Tagesablauf auf dem Hof war locker und weitmaschig und mußte nicht
ständig neu festgelegt werden. Man hatte den Eindruck, daß nicht Mr. Watson den
Hof führte, sondern der Hof ihn.
Es ging ganz allmählich bergab,
das war der Grund. Die Watsons hatten alles in allem etwa zwölf Hektar Land,
doch da der Pachtbesitz um Hanmer über die Jahre ziemlich planlos aufgeteilt
worden war, lagen ihre Felder über die ganze Gegend verstreut; nicht eines
grenzte direkt an den Hof. Sie wurden fast ausschließlich als Weideland oder
zum Anbau von Futtermitteln genutzt — Heu, Kohl, Mangold und Hirse. Einmal ging
ich hinter Mr. Watson her, als er Hirse säte. Wie der Sämann in dem biblischen
Gleichnis schritt er mit seinem Korb auf und ab und streute den Samen aus.
Hirsesamen ist schwarz und sehr fein, und als ich nach Hause kam, sah ich aus
wie Onkel Albert nach seiner Kohlentour. Das erheiterte meine Mutter, und sie
schimpfte ausnahmsweise einmal nicht. Vielleicht fühlte sie sich in ihrer
Vorliebe für Skurriles angesprochen.
Im allgemeinen waren Mr.
Watsons Methoden jedoch weniger romantisch und stärker mechanisiert. Er hatte
einen uralten Fordson-Traktor, aus x-ter Hand gekauft, als Ersatz für den
Ackergaul, der kurz nach dem Krieg gestorben war; das Geschirr hing noch im
Schuppen. Der Fordson war ein ruckelndes, launenhaftes, ohrenbetäubend lautes,
öl- und dreckverschmiertes Gefährt, das sich im Schneckentempo fortbewegte. Mr.
Watson und ich fuhren damit zu den entfernteren Feldern, wobei ich, in Schals
gewickelt, auf dem riesigen Kotflügel thronte und mich krampfhaft festhielt.
Man saß dort oben völlig ungeschützt, denn der Traktor hatte keine Kabine, aber
wir beide fühlten uns in unserer Hülle aus Lärm und Abgasen sehr behaglich.
Hinter uns stauten sich Autos und Lastwagen, die überholen wollten, doch wir ließen
uns nicht von unserer behäbigen Gangart abbringen. Wir hätten es auch gar nicht
gekonnt — und gerade dadurch wurden wir zu einer Art Naturgewalt.
Auf dem Traktor zu sitzen und
das Hämmern des Motors in den Knochen zu spüren hatte eine hypnotisierende
Wirkung, mehr noch als das Umhertrotten im Matsch. Man tauchte ein in das, was
Hanmer ausmachte. Stunde um Stunde war man vollauf damit beschäftigt, praktisch
nirgendwohin zu fahren. Die Landwirtschaft war wie ein Perpetuum mobile oder
etwas der Schwerkraft Unterworfenes, ein ewiger Kreislauf. Seltsamerweise war
der Eindruck sturer Beharrlichkeit gerade deshalb so stark, weil diese kleinen
Pachtbetriebe allmählich von der Bildfläche verschwanden. Ländliche
Lebensformen sind in England schon sehr lange im Aussterben begriffen,
mindestens seit der großen Welle der Privatisierung von Gemeindeland Mitte des
achtzehnten Jahrhunderts. Aber gerade das Endliche ist zeitlos. Nichts
symbolisiert diese Spielart ländlicher Idylle besser als eine verrostete
Landmaschine an einem Feldrand. Oder fast nichts. Als ich später auf Thomas
Hardys wehmütiges Gedicht »In Time of ›The Breaking of Nations‹« stieß,
erkannte ich, daß es eben jenen Sog einer Welt beschreibt, die endlos ihrem
Ende entgegengeht.
Nur ein Mann, der Schollen eggt
In
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