Die Angebetete
fuhr weg.
Die Sonne schien sehr grell, sodass Dance das Gesicht des Mannes nicht genau hatte sehen können. Sie hatte den Mann nur kurz erlebt und war sich hinsichtlich seiner persönlichen kinesischen Norm nicht sicher, aber sie hatte den Eindruck, dass das Gesicht des Stalkers bei Bobbys Worten leicht verwirrt gewirkt hatte – als wüsste er selbstverständlich , wo Kayleigh wohnte. Wieso auch nicht?
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Es ist kaum überraschend, dass Kalifornien seit jeher Latino-Musik hervorgebracht hat, darunter manche mit salvadorianischen, honduranischen oder nicaraguanischen Wurzeln. Der größte Teil jedoch zählt zu den Mexicana : traditionelle Mariachi, Banda, Ranchera, Norteño und Sones . Außerdem jede Menge Pop und Rock und sogar mexikanische Spielarten von Ska und Hip-Hop.
Diese Klänge wurden von zahlreichen spanischsprachigen Sendern überall im Central Valley in die Wohnungen und Büros und auf die Felder übertragen. Sie nahmen die Hälfte der Radiofrequenzen in Anspruch; der Rest entfiel auf angloamerikanische Musik, Talksender und religiöse Scharlatane, die um Geld bettelten und ihre wirre Theologie unter die Leute brachten.
Es war nun kurz vor einundzwanzig Uhr, und Dance erhielt in José Villalobos’ drückend heißer Garage am Rande von Fresno soeben eine unmittelbare Kostprobe dieser musikalischen Tradition. Die beiden Toyotas der Familie waren aus dem kleinen frei stehenden Gebäude verbannt worden. Normalerweise fungierte es als Proberaum, heute Abend aber diente es als Aufnahmestudio. Los Trabajadores beendeten gerade die letzte Nummer für Dance’ digitalen Rekorder. Die sechs Männer im Alter von fünfundzwanzig bis sechzig spielten schon seit einigen Jahren zusammen, und zwar sowohl herkömmliche mexikanische Volksmusik als auch eigenes Material.
Die Session war gut verlaufen, wenngleich die Männer anfangs etwas unkonzentriert gewesen waren – hauptsächlich wegen Dance’ Begleitung: Kayleigh Towne, das Haar zu einem kunstvollen Zopfknoten geflochten, mit verwaschener Jeans, T-Shirt und Denim-Weste.
Die Musiker waren eingeschüchtert gewesen, und zwei von ihnen waren ins Haus gelaufen, um die Frauen und Kinder zu holen und sich dann Autogramme geben zu lassen. Eine der Frauen hatte unter Tränen gesagt: »Wissen Sie, Ihr Song ›Leaving Home‹ bedeutet uns allen sehr viel. Gott segne Sie dafür, dass Sie dieses Lied geschrieben haben.«
Es handelte sich um die Ballade über eine ältere Frau, die ihre Habseligkeiten zusammenpackt und das Haus verlässt, in dem sie und ihr Mann ihre Kinder großgezogen haben. Der Zuhörer fragt sich, ob sie wohl gerade zur Witwe geworden ist oder ob die Bank das Haus zwangsversteigern lässt.
Now I’m starting over, starting over once again,
to try to make a new life, without family or friends.
In all my years on earth, there’s one thing that I know:
Nothing can be harder than to leave behind your home.
(Ich fange jetzt von vorn an, fange noch einmal von vorn an
und versuche, mir ein neues Leben aufzubauen,
ohne Familie oder Freunde.
In all meinen Jahren auf dieser Erde habe ich eines gelernt:
Nichts kann härter sein, als dein Zuhause zu verlassen.)
Erst am Ende wird klar, dass sie illegal im Land war und nun abgeschoben wird, obwohl sie ihr ganzes Leben in den Vereinigten Staaten verbracht hat. Als sie dann allein an einer Bushaltestelle in Mexiko steht, singt die Frau als Coda »America, The Beautiful«. Es war Kayleighs umstrittenster Song und hatte ihr den Zorn all jener eingehandelt, die für härtere Einwanderungsbestimmungen plädierten. Doch er war auch ungeheuer beliebt und zu einer Hymne der arbeitenden Latino-Bevölkerung und all jener geworden, die für eine weichere Linie eintraten.
Während sie nun ihre Sachen zusammenpackten, erläuterte Dance, dass die Titel bald auf ihrer Internetseite zur Verfügung stehen würden. Sie könne zwar nichts garantieren, aber die Band sei sehr gut und würde vermutlich eine ansehnliche Downloadquote erzielen. Angesichts der landesweit wachsenden Zahl von spezialisierten Radiosendern und unabhängigen Plattenlabels sei es durchaus möglich, dass auch irgendein Produzent oder Agent auf sie aufmerksam wurde.
Merkwürdigerweise waren die Männer nicht im Mindesten daran interessiert, erfolgreich zu werden. Oh, sie hätten nichts dagegen, mit ihrer Musik etwas Geld zu verdienen, aber nur über die Downloads. »Dieses Leben auf Tour wäre einfach nichts für uns«, erklärte Villalobos. »Wir reisen
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