Die Angebetete
Beerdigung oder so?«
»Weiß ich nicht. Einen schönen Tag noch.« Madigan machte sich auf den Rückweg, aber Dance folgte der Frau zu ihrem Wohnwagen.
»Verzeihung.«
»Ja?«
»Dürfte ich Ihnen noch ein paar Fragen stellen?«
»Tut mir leid. Ich muss mich wirklich wieder um die Kinder kümmern.«
»Wie viele?«
»Was?«
»Kinder.«
»Oh. Vier.«
»Ich habe zwei.«
Tabatha lächelte. »Ich hab da mal so ’nen Ausdruck gehört. Hab zwar vergessen, wie der genau hieß, aber ich glaube, es sollte bedeuten, dass man mit zwei Kindern das Schlimmste hinter sich hat, wissen Sie? Man kann noch zehn weitere bekommen, und es ist trotzdem kaum teurer.«
Dance lächelte verständnisvoll. »Zwei reichen mir.«
»Aber Sie gehen doch arbeiten.«
Dieser kurze Satz besagte sehr viel. Dann fügte Tabatha hinzu: »Ich weiß wirklich nur das, was ich dem Mann erzählt habe.« Sie betrachtete Dance’ straffe Figur, die saubere Jeans und die Sonnenbrille, deren Gestell die Farbe von Preiselbeersoße hatte.
Eine völlig andere Welt.
Und ich gehe arbeiten.
»Sheryl und Annette passen allein auf das Baby auf.« Die Frau ging weiter, und zwar erstaunlich schnell für ihre Statur. Sie nahm einen letzten tiefen Zug und trat die Zigarette dann sorgfältig aus. So machten die Raucher das in Kalifornien, dem Land der Buschfeuer.
»Nur ein oder zwei Fragen.«
»Wenn das Baby zu weinen anfängt …«
»Ich helfe Ihnen, seine Windel zu wechseln.«
»Ihre.«
»Wie heißt sie?«
»Caitlyn.«
»Hübsch. Meine heißt Maggie.«
Dann erreichten sie die Fliegengittertür des Wohnwagens. Tabatha spähte durch das schmutzige verrostete Drahtgeflecht. Dance konnte kaum etwas außer Spielzeugen erkennen: Plastikdreiräder, Ritterburgen, Puppenhäuser, Schatztruhen. Im Innern war es halbdunkel, doch die Außenwände sonderten immer noch Hitze ab. Der Fernseher lief. Eine der letzten noch verbliebenen Seifenopern.
Tabatha zog eine Augenbraue hoch.
»Nur noch ein paar Kleinigkeiten wegen Bobby.«
Dance setzte das Gespräch mit Tabatha fort, weil ihr eine wichtige Regel der kinesischen Analyse vertraut war: das Freiwilligenprinzip. Wenn jemand eine Antwort gibt und selbsttätig auch noch die mutmaßlich nächste Frage beantwortet, versucht derjenige dadurch oftmals, die Richtung des Gesprächs zu beeinflussen oder etwas zu verschleiern.
Dance war aufgefallen, dass Tabatha behauptet hatte, sie habe niemanden gesehen, weder gestern Abend noch heute Vormittag .
Wieso hatte sie das ausdrücklich erwähnt? Es ergab keinen Sinn, es sei denn, sie wollte etwas verbergen.
Dance nahm ihre Sonnenbrille ab.
»Ich muss mich jetzt wirklich um die Kinder kümmern.«
»Tabatha, was haben Sie heute Vormittag bei Bobbys Wohnwagen gesehen?«
»Nichts«, erwiderte sie schnell.
Die effektive kinesische Analyse eines Zeugen oder Verdächtigen beinhaltet langwierige Gespräche mit der jeweiligen Person – über einen Zeitraum von mehreren Tagen oder idealerweise Wochen. Dabei wird das Verbrechen zunächst gar nicht erwähnt; der Fragende erkundigt sich vielmehr nach Einzelheiten aus dem Leben des Betreffenden und gibt dazu Kommentare ab. Er wählt nur Themen, bei denen er vorher weiß, wie die Wahrheit lautet.
Auf diese Weise etabliert er eine grundlegende Norm des Betreffenden – wie die Person redet und sich verhält, wenn sie aufrichtig antwortet. Dann erst kommt der Fragende auf das Verbrechen zu sprechen und vergleicht die Reaktionen des Befragten mit der eingangs festgestellten Norm. Jede Abweichung deutet auf Stress und somit auf einen möglichen Täuschungsversuch hin.
Auch ohne Kenntnis der individuellen Norm gibt es indes einige Anzeichen, die auf eine Lüge hindeuten, zumindest für eine so erfahrene Spezialistin wie Kathryn Dance. Tabathas Stimme klang inzwischen etwas schriller als zuvor – was ein Zeichen für Stress war.
Ein Blick zu Bobbys Wohnwagen, vor dem Madigan und seine Deputys standen und zu ihr herüberstarrten. Dance ignorierte sie und sagte ruhig: »Es wäre für alle am besten, wenn Sie uns ein wenig mehr unterstützen würden.«
Für alle …
Auch für dich.
Wenigstens war sie keine Heulsuse. An diesem Punkt eines Verhörs, wenn Dance Zeugen oder Verdächtige dazu brachte, eine Lüge einzugestehen, brachen viele Frauen und eine überraschend hohe Anzahl Männer in Tränen aus. Es konnte dann mehr als eine Stunde dauern, sie davon zu überzeugen, dass sie trotz der Lüge keine schlechten Menschen waren, sondern
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