Die Angebetete
klar, dass die Sicht die des Erwachsenen ist. Eine Melodie kam ihr wie von selbst in den Sinn. Sie setzte sich an den kleinen Schreibtisch und notierte sich Text und Musik auf einem Blatt Papier. Die provisorischen Notenlinien zog sie selbst.
»Was machst du da, Tante Kayleigh?«
»Ich schreibe ein Lied. Du hast mich inspiriert.«
»Was heißt ›inspiriert‹?«
»Ich schreibe es für dich.«
»Oh, sing es mir vor!«
»Es ist noch nicht fertig, aber hier ist ein Teil davon.« Sie sang, und das Mädchen lauschte ihr verzückt.
»Das ist ein sehr gutes Lied«, verkündete Mary-Gordon stirnrunzelnd, als wäre sie der A&R-Manager einer großen Plattenfirma, der das Demoband eines neuen Künstlers beurteilte.
Kayleigh packte weiter aus und hielt vorübergehend inne, um ein etwa fünfzehn Jahre altes Familienfoto zu betrachten: Bishop, Margaret, Suellyn und Kayleigh auf der Veranda des alten Zuhauses in den Hügeln eine Stunde nördlich von hier.
I’ve lived in L. A., I’ve lived in Maine,
New York City and the Midwest Plains,
but there’s only one place I consider home.
When I was a kid – the house we owned.
Ich habe in L. A. gewohnt und in Maine,
in New York City und im Mittelwesten,
aber als Zuhause würde ich nur
einen einzigen Ort bezeichnen,
nämlich das Haus, in dem ich aufgewachsen bin.
Das Mädchen richtete seine strahlend blauen Augen auf die Sängerin. »Weinst du etwa, Tante Kayleigh?«
Die Sängerin blinzelte. »Nun ja, ein wenig, Mary-Gordon, aber weißt du, manchmal weint man, weil man glücklich ist.«
»Das wusste ich nicht. Ich glaube, ich tue das nicht.«
»Es trifft nicht für alle Leute zu.«
»Wohin soll die hier?«, fragte die Kleine und nahm eine Jeans. Dann legte sie sie behutsam in die Schublade, auf die Kayleigh zeigte.
»Wachablösung«, sagte eine Männerstimme hinter Dance in der Lobby ihres Motels. Sie war nicht beunruhigt. Die Stimme war ihr mittlerweile vertraut.
Dennoch erkannte sie P. K. Madigan im ersten Moment nicht, denn er trug zivile Kleidung – Bluejeans, ein kariertes Hemd, Cowboystiefel und eine gelbbraune Schirmmütze mit dem aufgestickten Bild eines Fisches, der am Haken aus dem Wasser gezogen wurde.
»Chief.«
Sie wollte gerade aufbrechen – zu Bishop Townes Haus, um die Befragung von Kayleighs Familie fortzusetzen –, aber sie nahm sich die Zeit und ging zu ihm. Kathryn warf einen Blick in die Bar und hätte ihn beinahe gefragt: »Möchten Sie ein Eis?« Doch sie entschied sich für: »Einen Kaffee? Eine Limo?«
»Nein«, sagte der große Mann. »Ich begleite Sie ein Stück. Ich wollte unbedingt mit Ihnen reden.«
»Sicher.« Dance fiel seine resignierte Körperhaltung auf, ganz anders als die selbstbewusste Positur, mit der sie ihn am Schauplatz von Bobbys Ermordung kennengelernt hatte.
»Folgendes: Anita hält sich streng an die Vorschriften. Niemand aus der Abteilung darf mit mir reden – auch zu deren eigenem Besten. Ich bin völlig abgeschnitten. Und Sie haben nun die Leitung inne.«
Ah, das meinte er also mit »Wachablösung«, begriff Dance. »Das kann man so nicht sagen.«
»Nun ja, Sie jedenfalls mehr als jeder andere. Verdammt. Ich wünschte, ich hätte in dem Verhörraum auf Sie gehört und den Scheißkerl gehen lassen.«
Der Detective tat ihr aufrichtig leid. Er wirkte vollkommen verzweifelt.
»Ich habe den Sheriff gefragt, ob ich nicht irgendwie beratend tätig sein könnte oder so. Aber sie hat abgelehnt. Es würde nicht gut aussehen und könnte uns bei dem Fall den Vorwurf der Befangenheit einbringen.« Er lachte auf, schroff und humorlos. »Ich weiß nicht, ob sie den Mordfall gemeint hat oder den Fall gegen mich. Sie sehen, ich bin kaltgestellt.«
»Ich bedauere, dass es dazu gekommen ist.«
Er winkte ab. »Das habe ich mir selbst zuzuschreiben. Aber der arme Miguel … Seine Frau verdient kein Geld, und er hat drei Kinder. Da dürften kaum Ersparnisse vorhanden sein.« Er wirkte nun verlegen. »Ich darf nicht offen in Erscheinung treten, Kathryn, aber gibt es vielleicht trotzdem etwas, das ich tun kann?«
»Ich weiß es nicht, Chief. Ich führe Vernehmungen durch, Charlie arbeitet an den Spuren, und Dennis sucht weiterhin nach Verdächtigen, die ein Motiv für den Mord an Bobby und den anderen Opfern haben könnten.«
»Ja, klar. Ich verstehe.«
»Sie könnten sich doch einfach freinehmen und angeln gehen.«
»Schon komisch«, sagte Madigan. »Ja, ich gehe gern angeln. Jedes Wochenende, schon seit Jahren. Aber die
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