Die Angebetete
und ein Glas Milch vor sich hinstellte und bedächtig aß.
Bei Kindern sind Täuschungsversuche natürlich alles andere als ungewöhnlich; sie lügen ungefähr genauso häufig wie Erwachsene, aber ihre Motive sind klarer. Verschwundene Süßigkeiten, zerbrochene Lampen.
Das größte Problem mit Kindern als Zeugen ist die Tatsache, dass sie nicht einordnen können, was sie gesehen haben. Was ihnen wie ein verdächtiges Verhalten vorkommt, kann völlig harmlos sein, und sogar die ungeheuerlichsten Verbrechen entgehen ihnen oftmals, weil sie nicht begreifen, dass es sich um Verbrechen handelt.
Dance kam nun behutsam auf die Fahrt vom Flughafen zu sprechen. Doch auch dieser Ansatz war vergebens. Die Kleine erinnerte sich lediglich an einen netten Mann, der ihr viele tolle Sachen über die Gegend erzählt hatte und ihre Tante sehr gern mochte. Wenn sie »Stan« erwähnte, Edwin Sharps Pseudonym, leuchteten ihre blauen Augen.
Es gefiel ihr, dass er gehofft hatte, ein perfektes Geschenk für Kayleigh zu finden. »Ich sollte etwas aussuchen, das ihr wirklich, wirklich gefällt. Ich habe einen ausgestopften Baum genommen.«
»Danke schön, Mary-Gordon«, sagte Dance.
»Gern geschehen. Sehen wir Mr. Stan bald wieder? Ich mag ihn gern.«
»Ich weiß es nicht, mein Schatz.«
»Du kannst dir einen Keks mitnehmen, wenn du möchtest. Oder zwei.«
»Ich glaube, das werde ich machen.« Dance wickelte sie in eine rosafarbene Serviette ein. Sie waren wirklich gut.
Als sie das Arbeitszimmer verließen, fragte Suellyn: »Das hat nicht viel gebracht, oder?«
»Wohl nicht, aber ich weiß die Hilfe zu schätzen.«
Nachdem er angeklopft und Sheri ihn hereingewinkt hatte, trat Darthur Morgan durch die Vordertür ein, in einer Hand seine Reisetasche, in der anderen zwei Bücher.
»Ich zeige Ihnen Ihr Zimmer«, sagte Kayleighs Stiefmutter. Das kleine Mädchen nahm ihm das Gepäck ab.
»Du brauchst nicht …«
»Die nehme ich«, sagte Mary-Gordon und lief damit ins Wohnzimmer. Der riesige Mann schaute ihr halb belustigt, halb verwirrt hinterher. Suellyn folgte ihrer Tochter lachend.
Dance verabschiedete sich von Bishop und Sheri und trat nach draußen auf die vordere Veranda. Kayleigh saß hier auf einer Hollywoodschaukel. Die beiden Frauen waren allein. Dance nahm auf einem knarrenden Rattansessel Platz. Die Sängerin wies mit ausholender Geste auf das Haus. »Sieh dir das an«, sagte sie angespannt. »Sieh dir an, was passiert ist. Menschen sind tot, Leben wurden ruiniert. Ich verstecke mich bei meinem Vater. Um Gottes willen, mein Leben ist eine Katastrophe. Und wir wissen nicht mal mit Sicherheit, dass er dahintersteckt. Aber er ist es, nicht wahr?«
Dance spürte, dass kürzlich etwas geschehen sein musste, von dem Kayleigh nichts erzählen wollte. Sie kannte die grundlegende Verhaltensnorm der Sängerin ziemlich gut und stellte nun Abweichungen fest – beim Augenkontakt und bei der Schulterhaltung. Es musste etwas sein, das in ihr vorging – Gedanken, die sie beschäftigten, Erinnerungen, die sie Dance nicht anvertrauen wollte, irgendein Fehler, den sie begangen hatte. Und zwar vor Kurzem.
»Ehrlich, ich weiß es nicht. Wir bauen Fälle zwar immer langsam auf, aber für gewöhnlich gibt es ein paar eindeutige Beweise oder Zeugenaussagen, die uns zumindest verraten, dass wir auf dem richtigen Weg sind. Bei Edwin ist alles unklar.«
Kayleigh senkte ihre Stimme. »Das wird mir alles zu viel, Kathryn. Ich denke ernsthaft darüber nach, das Konzert am Freitag abzusagen. Mein Herz ist überhaupt nicht bei der Sache.«
»Und dein Vater ist damit einverstanden?«, fragte Dance, weil sie den verstohlenen Blick in Richtung von Bishop Towne und den Rückgang der Lautstärke bei dem Wort »abzusagen« bemerkt hatte.
»Ja«, antwortete Kayleigh, war aber unschlüssig. »Er tut jedenfalls so, aber dann verhält er sich, als hätte ich nichts dergleichen erwähnt. ›Sicher, ich verstehe. Von mir aus … Aber falls du doch nicht absagst, solltest du bei der dritten und vierten Strophe von ›Drifting‹ die Tonart hoch nach D wechseln‹.«
Sie wies auf die Stelle, an der sie saßen. »Weißt du noch, was ich auf der Rückfahrt von der Familie Villalobos zu dir gesagt habe? Mehr Bühne als das hier will ich gar nicht, meine vordere Veranda. Große Abendessen kochen und dick werden. Nur noch für die Kinder und die Familie spielen, eine ganze Schar Mary-Gordons und Henrys bekommen. Ich weiß auch nicht, warum ich ausgerechnet
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