Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Angst der Boesen

Die Angst der Boesen

Titel: Die Angst der Boesen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kristina Dunker
Vom Netzwerk:
behandeln, wenn du zu denen gehörst, die so was machen, ne, wenn du so einer bist, so ’ne miese Ratte, dann ... dann tust du mir leid. Echt leid, ey.
    Weil: Euch kann’s ja auch treffen. Morgen. Heute. Aus Zufall oder aus Rache, aus heiterem Himmel oder ... angekündigt.
    Irgendwann ist Feierabend.
    Darauf könnt ihr euch verlassen. Ihr werdet schon sehen.

Freitag, 10. Juni
18
    Paul war sehr erleichtert, als sein Hausarzt ihm sagte, sein Blutbild sei in Ordnung, er habe sich nicht mit Hepatitis angesteckt und es sei aufgrund seiner Schilderung auch eher unwahrscheinlich, dass er sich mit Aids infiziert habe. Zur Beruhigung könne man in ein paar Wochen noch einen Test machen. Doch die Erleichterung hielt nicht lange an, denn der Hausarzt wollte natürlich wissen, wieso Paul in Berührung mit dem Blut eines Obdachlosen gekommen war.
    Zwar standen Ärzte unter Schweigepflicht, aber Pauls Scham war so groß, dass er zögerte. Die volle Wahrheit konnte er niemandem sagen. Dennoch begann er zu erzählen: Wie er in der Schule im letzten Jahr nur noch das pure Überleben gelernt hatte und zuerst froh gewesen war, dass an jenem Abend auf einmal der Obdachlose aufgetaucht war. »Hilfe für den Mann zu holen hab ich mich nicht getraut. Wie denn auch? Die hätten mich sofort gepackt, wenn ich mein Handy gezückt hätte.«
    Der Arzt sagte nichts, aber Paul hatte sich die Frage selbst schon viel zu oft selbst gestellt. Hatte es wirklich keine Möglichkeit gegeben einzugreifen? Tatjana war doch auch noch da gewesen. Paul hätte sich mit ihr absprechen können. Aber irgendwie ...
    In Gedanken sah er die Situation wieder vor sich. Nein, er hatte keine Chance gehabt. Die anderen hatten gesagt, dass er mitmachen solle. Ihn treten. Richtig reintreten, Kartoffelgesicht , hatten sie gesagt. Tritt rein oder du bist selber dran. Los, mach schon, das ist jetzt deine Chance zu beweisen, dass du ein Mann bist . Das wollte und konnte er nicht machen. Da hatten sie ihn gestoßen, sodass er auf den Penner gefallen war und direkt auf ihm lag, auf seinem blutigen Gesicht, mit der Nase in Rotz und Kotze. Streber , hatten sie zu ihm gesagt. Schwuchtel. Schwanzlutscher . Und: Hosen runter, die Opfer wollen’s miteinander treiben .
    Paul kämpfte mit den Tränen.
    »Hast du mal darüber nachgedacht, dich jetzt zu wehren und Anzeige gegen deine Mitschüler zu erstatten?«, fragte der Arzt behutsam. Er musste gemerkt haben, was in Paul vorging.
    »Nein, das mache ich nicht. Dann kann ich echt einpacken. Außerdem nutzt das dem Mann jetzt auch nichts mehr.«
    Wie von weltfremden Erwachsenen zu erwarten, redete der Hausarzt noch eine Weile auf Paul ein, sprach von seiner moralischen Pflicht, das Vergehen der Polizei zu melden und dem Obdachlosen wenigstens im Nachhinein Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.
    »Du wirst dich besser fühlen, wenn du das gemacht hast. Du wirst dein Gewissen erleichtern, wirst dir und den anderen zeigen, dass du nicht so bist wie die Schläger deiner Klasse.«
    Paul schüttelte nur den Kopf. Er war nicht besser als sie. Er hatte dem Arzt nicht alles erzählt. Das Schlimmste fehlte ja.
    Nachdem Paul sich an jenem Abend nämlich wieder vom Bauch des Penners aufgerappelt hatte, waren die Demütigungen weitergegangen. Zuerst hatte es eine Pause gegeben,weil das Handy des Mannes geklingelt hatte. Ein winziger Aufschub war das gewesen, ein verzweifeltes Aufatmen. Zu kurz, um abzuhauen. Paul hatte hastig versucht, sich sauber zu machen; der Penner war nicht mehr in der Lage gewesen, irgendwas zu tun. Selbst sein Winseln und verzweifeltes Luftschnappen hatte aufgehört.
    Plötzlich war die Frage aufgetaucht, ob der Typ, der angerufen hatte, wohl die Polizei verständigen würde. Also hatten die anderen diskutiert, wie man das Scheißopfer am besten verschwinden ließe. Und wer es tun sollte.
    Das, was er dann getan hatte, konnte Paul niemals jemandem erzählen, schon gar nicht dem Arzt. Das war selbst für die bis zu diesem Moment stumm vor sich hin glotzende, Fingernagel kauende Tatjana zu viel gewesen.
    »Keine Fotos«, hatte sie gerufen, »das will ich nicht, dass ihr davon Fotos macht. Das ist voll daneben, das muss unter uns bleiben. Am besten vergessen wir’s ganz schnell wieder!«

    Dieser Meinung war Tatjana drei Wochen später offenbar immer noch. Als Paul die Praxis verließ, traf er sie nämlich zufällig im Flur des Ärztehauses. Er sprang gerade die Treppen herunter; sie stieg im ersten Stock vor der Tür des

Weitere Kostenlose Bücher