Die Angst der Boesen
und da habe ich genau gehört, dass oben die Tür aufgegangen ist. Er war erst kurz vorher nach Hause gekommen. War also nur kurz drin, kam wieder raus und hat sich übers Geländer gebeugt. Die Balken auf dem Treppenabsatz haben geknarrt.«
»Der ist eben neugierig. Das bist du auch.«
»Nein, bin ich nicht. Er hat mir bei der Vertragsunterzeichnung keinen Ausweis vorgelegt, weil seine Papiere angeblich noch in der Wohnung seiner Exfreundin liegen und er dort nicht auftauchen will. Die erste Monatsmiete und die Kaution hatte er aber in bar dabei.«
Paul grinste. »Das hat dich überzeugt.«
»Nun ja. Du willst in eineinhalb Jahren den Führerschein machen und dafür muss gespart werden.«
Er umarmte sie kurz und fühlte sich für Sekunden trotz der chaotischen Tagesereignisse glücklich.
Etwa eine Stunde später – sie wollten gerade ein Eis auf der Terrasse essen − hörten sie wieder ein Geräusch im Hausflur. Anscheinend drängte es Nolte immer wieder nach draußen.
»Jetzt guck ich ihn mir an«, sagte Paul und öffnete, die Eisbecher noch in der Hand, die Wohnungstür.
Der Mann war gerade davor angekommen. Er war Anfang vierzig, groß und sportlich und trug eine Trainingstasche. »Hallo«, sagte er überrascht.
»Hallo.« Paul musterte ihn kurz. Nolte blickte zurück, nicht unfreundlich, aber doch sehr distanziert. Wahrscheinlich hätte Paul selbst so geguckt, wenn seine Vermieter ungeniert die Tür aufgerissen und ihn angeglotzt hätten. Nachbarn konntenschließlich furchtbar nerven. In dem Mehrfamilienhaus, in dem sie vorher gelebt hatten, hatten auch so Saubere und Kontrollsüchtige gewohnt, die darauf bestanden, dass die Mülltonnen von innen gereinigt wurden und niemand etwas in die Recyclingtonne warf, das dort nicht reingehörte. Da Paul sich mit dem schmelzenden Eis in der Hand extrem doof vorkam und nicht mehr so recht wusste, was er sagen sollte, war er froh, als seine Mutter zu ihm trat.
»Guten Tag. Wir wollten Sie fragen, Herr Nolte, wann Sie denn den richtigen Umzug machen? Ich meine, Sie werden doch auch eigene Möbel mitbringen, oder? Was mein Mann und ich an Bett, Schrank und Tisch vorerst zur Verfügung gestellt haben, ist ja etwas spartanisch – auch für jemanden wie Sie, der nur Abstand gewinnen, in Ruhe schreiben und zu sich finden will.«
Martin Nolte nickte. »Natürlich, Frau Brinker. Aber wie Sie merken, bin ich immer noch nicht so ganz angekommen. Ich muss auch ehrlich sagen, dass ich noch keinen einzigen Satz verfasst habe.« Er lachte, etwas künstlich, wie Paul fand. »Vielleicht ist eine fremde Umgebung doch nicht inspirierend. Nun ja, morgen kann ich noch mal den ganzen Tag ungestört in die alte Wohnung, um dort zu packen und auszumisten, und am nächsten Wochenende habe ich den Transporter eines Freundes für den Umzug. Dann bekommt alles seine Ordnung und ich schließe hoffentlich auch mit dem Verlust ab.« Er wandte sich zum Gehen, drehte sich vor Verlassen des Hauses aber noch mal zu ihnen um und grinste diebisch. »Ach, nicht, dass es mich etwas anginge, aber haben Sie Ihre Probleme mit der Polizei klären können?«
»Selbstverständlich«, rief Pauls Mutter hastig.
Sie schämt sich, dachte Paul. Er selbst wollte auch noch etwas sagen, aber Nolte grinste jetzt noch mehr, als freue es ihn, dass die Polizei seine Vermieter in die Mangelgenommen hatte. Für einen kurzen Augenblick kam Paul an dem Mann etwas bekannt vor. Er erinnerte ihn an jemanden, aber an wen?
Schließlich lächelte Nolte falsch-freundlich wie für eine Zahnpastawerbung, wünschte ein schönes Wochenende und ging.
Keine zwei Minuten später, als sein Auto weggefahren war, schnappte sich Paul den Ersatzschlüssel für die Wohnung.
»Was machst du?«, fragte seine Mutter.
»Ich guck mir mal kurz an, wie der so lebt. Steh du Schmiere, okay?«
»Das geht nicht«, sagte sie ängstlich, »das dürfen wir nicht.«
»Klar geht das«, widersprach er und stieg die Treppe in den zweiten Stock hinauf.
35
Lilly hatte aus Frust beschlossen, den Rest dieses grässlichen Tages an der Gedenkstelle für Sven zu verbringen. Nachdem Jan-Oliver sie derart fies hatte fallen lassen, packte sie wieder das Gefühl, nach Svens Tod niemanden mehr zu haben. Hier war sie wenigstens nicht allein. Alle Leute trafen sich hier und redeten mit ihr.
Auch am späteren Nachmittag fragten ihr noch wildfremde Leute Löcher in den Bauch, die Psychologin bot ihre Hilfe an und ihre Freunde und Mitschüler scharten sich um
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