Die Angst der Boesen
irgendwas passiert, oder? Habt keine Scheu, auch wenn ihr vielleicht Fehler gemacht habt. Wir machen doch alle mal Fehler, oder? Vertraut mir, ich werde mich für euch einsetzen, ich ...«
Lilly konnte es nicht mehr ertragen. »Ihr Gesülze kommt mir zu den Ohren raus.« Sie stand auf.
Auch Ebru war fertig. »Gehen wir.«
Doch auch als sie das Schulgelände verließen, konnte Tatjana nicht offen reden, denn vor ihnen hielt jetzt ein Polizeiwagen, in dem außer der Kommissarin Steiger auch Lillys Mutter saß.
Sie stieg aus und fasste Lilly am Arm. »Die will dich unbedingt befragen, weil du doch Svens Freundin gewesen bist. Bei Paul waren sie auch. Ich habe gesagt, dass ich’s erlaube, aber ich will dabei sein.« Demonstrativ strich ihre Mutter ihr über den Arm. »Mein armes Lillymädchen, ich muss dich doch beschützen.«
36
Pauls Hand schwitzte, als er den Schlüssel in der Wohnungstür des Mieters umdrehte. Eigentlich konnte nichts passieren: Erstens hatte er gesehen, wie Nolte das Haus verließ, zweitens hielt seine Mutter unten Wache.
Wenn Ilkay, Leon und Levent von seiner Angst wüssten – und von der Gemeinschaftsaktion mit Mama, oberpeinlich hoch drei! – , würden sie sich schlapplachen.
Er betrat das Apartment. Einen Flur gab es hier nicht, nur den Wohnraum mit Kochnische, das kleine Bad und die Treppe auf die schmale Galerie im Dachboden, wo er mit seinem Vater das Bett hingestellt hatte. Paul vermisste seinen Vater gerade mal wieder enorm. Der hatte einen so lebensfeindlichen Job, dass man die paar Male, die sie in diesem Jahr schon etwas zusammen gemacht hatten – und sei es nur ein DVD -Abend –, an einer Hand abzählen konnte.
Paul schüttelte den Gedanken ab und sah sich um. Praktisch keine Möbel, zumindest keine, die nicht von ihnen stammten. Direkt von Nolte waren nur die drei Umzugskisten, die noch ungeöffnet an der Wand standen. Außerdem ein Laptop auf dem auch von ihnen stammenden Tisch, einer einfachen Holzplatte auf zwei Böcken. Neugierig trat Paul näher. Der Laptop war eins der besseren Modelle, der Kaffeebecher daneben – auch er aus ihrem eigenen Bestand, wenn er sich recht erinnerte – noch halb voll. Der danebenliegende Stadtplan sah aus, als hätte er die andere Hälfte des Kaffees abgekriegt. Orte, die der Mieter mit rotem Filzstift umkreist hatte, waren von der sich auflösenden Farbe verwischt. Paul warf nur einen kurzen Blick darauf – wahrscheinlich die Adressen anderer Wohnungsangebote – und schlich weiter.
Vor dem Fenster stand eine vierte Umzugskiste, deren Pappdeckel offen war und in der sich etwas Kleidung befand.
Auf der Fensterbank thronte eine leere, erdverkrustete Schnapsflasche, in der eine alte getrocknete Rose steckte. Davor sah er ein Teelicht und ein silbernes Schmuckstück.Paul nahm das Kettchen in die Hand und betrachtete es genauer. Eine Art Bettelarmband, an dem springende Delfine, keltische Symbole, zwei Herzen und ein Plättchen mit einem eingravierten Namen hingen: Marie .
War das Noltes Exfreundin?
Ob sie ihn verlassen hatte? Hatte sie einen anderen? Und die Kette? Hatte Nolte sie ihr schenken wollen oder sie als Erinnerungsstück mitgehen lassen?
Wohl eher Letzteres, denn das Arrangement – Kerze, Rose, Kette – wirkte wie ein Traueraltar. Nolte musste vor Liebeskummer ziemlich von der Rolle sein.
So stark hatte es Paul noch nie erwischt, dass er vor Sehnsucht krank geworden wäre. Übertriebene Leidenschaft war eher Lillys Stil.
Er, Paul, hatte ja bisher auch noch keine Gelegenheit gehabt, jemanden richtig zu lieben – und entsprechend zu leiden, wenn er diesen Menschen verlor.
Aber vielleicht änderte sich das ja bald?
Mit auf einmal viel leichteren Schritten durchquerte er den Raum und blickte die Bodenstiege zur Galerie hinauf. Oben stand das Bett. Dort war der Himmel, war der Platz für die Wolke sieben, die er ursprünglich hatte beziehen wollen. Paul kam ein verwegener Gedanke. Trauerkloß Nolte konnte mit dem perfekten Liebesnest gar nichts anfangen. Und morgen war er außerdem den ganzen Tag nicht da, oder?
Paul stieg die steile Treppe hinauf. Oben hatte sich ein muffiger Geruch festgesetzt; das Bett war ungemacht. Das versetzte seinen verwegenen Fantasien einen Dämpfer. Wenn er hier heimlich mit Nico heraufwollte, müsste er vorher lüften, außerdem die zerknüddelten Decken zur Seite schaffen und die Matratze mit einem großen Laken abdecken. Unmöglich war das nicht. Und wenn Nolte früherzurückkäme, müssten
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