Die Angst der Boesen
Lehrerinnenautorität beweisen wollte, nocheins draufgesetzt: »Doch, du brauchst meine Hilfe, Lilly. Und du lügst, du hast kein Vorstellungsgespräch. Du wirst auch kein einziges bekommen, wenn du so weitermachst. Jetzt ab, zurück in den Unterricht.«
Lilly, natürlich. Martin musste diesen Namen gesucht haben, begriff sie jetzt. Er hatte keinen Kommentar zu der Szene abgegeben, nur gegrinst. Stumm hatten seine Lippen dann den Namen wiederholt: Lilly.
Bei dem Gedanken daran sackte Silke jetzt auf dem nächtlichen Parkplatz komplett in sich zusammen. Sie hatte das Mädchen in Gefahr gebracht.
»Frau Hoffmann«, bat Levent und tätschelte unbeholfen ihren Rücken, »Frau Hoffmann, kommen Sie, Sie dürfen hier nicht bleiben, Sie müssen aufstehen und mit mir ins Krankenhaus zu Ilkay fahren. Bitte, Frau Hoffmann, warum sind Sie denn sonst hierhergekommen?«
Eine interessante Frage, dachte Silke.
Vielleicht weil der Gedanke an Martin immer beängstigender geworden war. Sie hatte sich ausnutzen lassen, oder um es mit den Worten ihrer Schüler zu sagen: Sie war voll verarscht worden. Eines war ihr jetzt klar: Sie musste so schnell wie möglich mit Kommissarin Steiger sprechen. Gleich nachdem sie Levent im Krankenhaus abgeliefert hatte.
46
Ilkay kämpfte gegen die Ohnmacht an. Er lag jetzt fast genauso da, wie vor ein paar Wochen der junge Obdachlose am Boden gelegen hatte. War etwa doch was dran an Frau Hoffmanns Lieblingsbehauptung, dass man alles Gute wie Schlechte, was man anderen im Leben antut, irgendwann mit gleicher Münze zurückbekommt?
Ilkay hatte großen Mist, vielleicht unverzeihlichen Mist gebaut und dafür hatte sich jetzt jemand gerächt – okay, das sah er irgendwo ein, eine gewisse Strafe konnte er akzeptieren. Aber er wollte nicht, niemals, wie dieser Penner sein. Nicht so ehrlos und schicksalsergeben. Das war das Schlimmste gewesen: dass der Penner nicht ein einziges Mal versucht hatte, Widerstand zu leisten. Warum hatte er das nicht getan? Er hatte doch eh nichts zu verlieren gehabt.
Für einen kurzen Moment sah Ilkay noch mal die Szene von vor drei Wochen.
Der Penner liegt auf dem Kies. Gesicht angeschwollen von den Tritten. Kann kaum noch was sehen, vielleicht gerade noch verschwommen den Arm des einen Jungen. Der Junge steckt das Handy, das die einzige Hoffnung auf Rettung und Hilfe gewesen wäre, mit den Worten ein: »Das nehm ich jetzt schon mal als Anzahlung. Und weißt du auch für was? Als Anzahlung für dein Grab, du Penner. Scheiß Missgeburt, kannst dir nicht mal ein anständiges Grab leisten.«
Ilkay wollte noch nicht ins Grab. Nein! Er war jung, er wollte leben, er wollte laufen, Fußball spielen, Ebru sehen, was lernen, möglichst viel Geld verdienen; aber das war nicht so wichtig. Wichtig war: leben, laufen, an einem Sommerabend mit den Freunden durch die Stadt ziehen.
Wieder hatte er, ohne es zu wollen, das Bild des jungen Obdachlosen vor sich, wieder erinnerte er sich genau.
Gelächter.
»Wenn er sich kein Grab leisten kann«, sagt der erste Junge, »müssen wir ihn entsorgen. In den Müllcontainer mit ihm. Wer macht das? Ah, da haben wir ja schon einen Freiwilligen: Paule, das ist dein Part!«
Ein angstgeschwängertes Stimmchen: »Hört ihr dann auf mit dem Scheiß? Lasst ihr uns dann in Ruhe?«
»Uns? Hört euch das an, die Opfer haben sich schon verbrüdert.«
Das hatten sie also gemeinsam, er und dieser Martin, dachte Ilkay – ohnmächtig ausgeliefert zu sein. Der Krankenwagen hielt schon neben ihm, Hilfe nahte und doch war er wie in einem Albtraum gefangen. Der Penner war er.
Über seinen Kopf hinweg wird über sein Schicksal diskutiert. Die Worte rauschen vorbei. Unmöglich zuzuhören.
Dann wird er an den Füßen gepackt. Unsichere, widerwillige Hände schleifen ihn über den Boden.
So zieht man Tote weg. Aber noch ist er nicht tot. Bewegungsunfähig, aber nicht tot.
Schmerzen, dachte Ilkay, seine Schmerzen, meine Schmerzen, alles das Gleiche.
Man hebt ihn hoch. Ungeschickt. Er knallt gleich wieder runter.
»Ja, los, Schwuchtel, schaff ihn weg! Was ist, kriegst du ihn nicht allein hoch? Du kriegst sowieso keinen hoch, was? Ha, ha, ha, na los, streng dich an, rein mit dem Müll in die Mülltonne und dann Deckel drauf, damit ’s nicht so stinkt.«
Es dauert ewig, bis schließlich zwei Jungen ihn hochheben, ihm zu zweit den letzten Schubs in die Welt des Abfalls geben.
»Genau da gehört ein Penner hin! Scheiß Opfer.«
Ein einziger Abend reichte, um
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