Die Angst der Boesen
bei der Polizei gemacht«, antwortete Tatjana erschöpft. Sie wusste nicht, ob es Sinn machte, hier alles zu wiederholen, und hatte auch keine Lust dazu. Nur mit Paul, Lilly und Levent wollte sie reden. Die Erwachsenen hier waren viel zu weit weg von ihrer Welt, zu verknöchert für ein vernünftiges Gespräch. Außerdem hatten sie auch noch Vorurteile gegeneinander. Diese Leute würden sich eher gegenseitig angreifen, als für die Polizei Hinweise auf den Täter zu sammeln.
»Dann willst du uns nichts sagen?«
»Nein, Frau Hoffmann. Ich bin ja hier auch nicht in der Schule.«
Frau Hoffmann wirkte am Boden zerstört. Kurz fragte sich Tatjana, warum sich die Lehrerin so sehr engagierte.
Da sagte ausgerechnet Lilly: »Unsere Eltern müssen’s ja wissen, Tatjana. Hilft nix zu schweigen, das kommt eh raus.«
»Nein, Lilly, ich möchte nicht ...«
Lilly fuhr ihr über den Mund. »Du hältst dich auch nicht daran, wenn du was nicht weitersagen sollst. Die Wahrheit ist, ihr habt einen Penner zusammengetreten, ganz einfach.«
Eine Sekunde war es still, dann wiederholte Leons Vater lakonisch: »Ganz einfach.«
Levent sagte: »Ich nicht. Ich war nicht dabei. Tatjana war dabei und Paul.«
»Paul?«, fragte Frau Hoffmann völlig entgeistert.
»Ja«, rief Tatjana und spürte, wie ihre Stimme so schrill wurde, dass sie sich überschlug. »Wir sind eben alle Assis, die ganze Klasse, und deshalb werden wir jetzt auch alle umgebracht!«
48
Paul hatte seinen Aufbruch hinausgezögert. Nicht so sehr aus Furcht davor, dass ihm auf dem Weg etwas passieren könnte, sondern wegen seiner Mutter. Sie hatte zur Hälfte mitbekommen, worum es in seinem Gespräch mit Lilly gegangen war, und als sie erfuhr, dass die Polizei angeordnet hatte, er solle zu Hause bleiben – während er noch mit Lilly gesprochen hatte, hatte Kommissarin Steiger extra angerufen und die Warnung wiederholt –, verbot seine Mutter ihm, allein zum Krankenhaus zu fahren.
»Die Eltern und Tatjana sind da«, sagte sie, »das reicht. Du musst jetzt nicht auch noch hin, so spät am Abend.«
Doch, das musste er. Durch seine Anwesenheit in der Klinik würde er seine Verbundenheit mit Lilly und Leon zeigen. Für Lilly war er ein Mittäter, und so schmerzlich das auch war: Sie hatte in gewisser Weise recht. Aber mit Versagen und Feigheit war in Pauls Leben ab heute Schluss, das hatte er sich fest vorgenommen. Jetzt wollte er zu dem, was er war und was er tat oder getan hatte, stehen und das hieß auch, dass er zu seinen Freunden wollte und bereit war, dafür etwas zu riskieren, egal, wie viel Angst er hatte.
Er wartete, bis seine Mutter im Schlafzimmer verschwunden war und er ziemlich sicher sein konnte, dass sie eingeschlafen war. Dann schlich er sich aus der Wohnung und im Dunkeln die Treppe im Hausflur hinunter. Sein Rad standim Keller. Er benutzte es selten, seit ihm ein paarmal die Luft aus den Reifen gelassen worden war. Gerade kam er an der Hintertür zum Hof vorbei, als er ein Auto hineinfahren hörte. Er stutzte, denn dort parkten nur seine Eltern. Der Mieter hatte bisher immer vorn an der Straße gestanden. Aber er durfte seinen Wagen natürlich auch dort hinten parken.
Paul wollte dem Neuen nicht unbedingt begegnen. Also stieg er rasch die letzten Stufen runter, öffnete die schwere Eisentür zum Keller und ließ sich länger Zeit als sonst, um sein Rad zu nehmen und zum Ausgang zu schieben. Als er glaubte, dass nun wirklich auch der Langsamste vom Hof durch den Flur gegangen sein musste, öffnete er die Tür wieder. In diesem Augenblick ging das Flurlicht an und Nolte stand direkt vor ihm. Paul zuckte zusammen.
»Hoppla«, sagte Nolte. »Jetzt haben wir uns aber beide erschrocken.«
»Ja«, gab Paul zu, und weil er nicht wieder den Eindruck erwecken wollte, er spioniere dem Mann nach, fügte er hinzu: »Äh, eine Bitte: Könnten Sie leise durch den Flur gehen? Meine Mutter schläft schon. Sie soll nicht wieder wach werden und mitbekommen, dass ich noch wegfahre.«
Noltes Gesicht hellte sich auf. »Na klar. Für so was hab ich natürlich Verständnis. Das kenne ich nur zu gut von meinem Sohn. Wo soll’s denn hingehen? Disco? Party? Ein paar Bierchen kippen, die Sau rauslassen?«
»Schön wär’s«, antwortete Paul. »Ich muss zum Krankenhaus.«
»Wie? Und das darf deine Mutter nicht wissen?« Nolte staunte. »Bist du krank?«
»Nein, nicht ich. Ein Mitschüler liegt im Krankenhaus. Er ist heute Abend überfallen und niedergestochen
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