Die Angst der Woche
»Entzauberung der Welt« hätte hier anders als anderswo noch nicht in vollem Ausmaà stattgefunden? Kein anderes westliches Land sei so technikfeindlich und fortschrittspessimistisch wie Deutschland, konstatiert das amerikanische Nachrichtenmagazin Newsweek . »Nirgendwo sonst auf der Welt sind Atomkraft, Gentechnik und Stammzellenforschung so geächtet, Chemieangst und Mobilfunkfurcht so verbreitet«, schreibt Michael Miersch in Cicero . »Eine CSU-Agrarministerin tut im Jahr 2009 alles, um die Pflanzengentechnik abzuwürgen. Vier Universitäten haben resigniert und die Forschung auf diesem Gebiet aufgegeben. 80 Prozent der Gentechnikforscher, heiÃt es beim Max-Planck-Institut in Potsdam, sind bereits ausgewandert oder wollen es tun. Wichtige Grundlagen der Pflanzengentechnik wurden einst in deutschen Labors entwickelt. Doch Fortschritt war gestern. Eine mächtige Koalition aus Ãkoaktivisten, Pfarrern, Politikern und Journalisten hat es geschafft, dass die Deutschen neue Technologien nicht mehr als Chance, sondern nur noch als Risiko betrachten.«
Ganz gleich jedoch, wer zuerst da war â die Henne oder das Ei â, fest steht, dass wir in Deutschland weit hysterischer und anfälliger für Panik sind als viele andere; aus welchen Gründen auch immer machen wir als Zuschauer wie auch als Akteure eines groÃen Angsttheaters ganz besonders eifrig mit. Und im Folgenden soll es vor allem darum gehen: Wer schreibt das Drehbuch dieses Stücks, wer verteilt die Rollen, schneidert die Kostüme, plant die Bühne, wer führt hier Regie? Und ganz besonders von Bedeutung: Wie bringt man die vielen unbezahlten Mitmacher dazu, diese im Wesentlichen immer gleiche Tragikomödie Jahr für Jahr von Neuem lustvoll mitzuspielen?
Mit dieser Frage fange ich im nächsten Kapitel einmal an.
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Literatur:
David L. Altheide: Creating reality: How TV news distort events , Beverly Hills 1976 (Sage)
Peter Bobrowski und Hans Rickman: Comet/Asteroid Impacts and Human Society, New York 2007 (Springer)
Sabine Bode: Die deutsche Krankheit â German Angst , 2. Auflage, München 2010 (Piper)
J. Galtung: »Struktur, Kultur und intellektueller Stil. Ein vergleichender Essay über sachsonische, teutonische, gallische und nipponische Wissenschaft«. In: Alois Wierlacher (Hrsg.): Das Fremde und das Eigene: Prolegomena zu einer interkulturellen Germanistik , München 1985, S. 151 â 196 (Iudicium-Verlag)
Annika Lohstroh und Michael Thiel: Deutschland, einig Jammerland , Gütersloh 2011 (Gütersloher Verlagshaus)
Manfred Lindinger. »Erste Kollisionen in der Urknallmaschine«, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25.11.2009
Michael Miersch: »Deutschland fehlt eine Fortschrittspartei«, Cicero , August 2009
Richard Posner: Catastrophe: Risk and Response , London 2004 (Oxford University Press)
D. Ropeik: »Never bitten, twice shy: the real dangers of the summer«, New York Times , 9.8.2003
Reinhard Zöllner: » Apokalypse jetzt! Wir Deutschen sollten uns schämen«, Die Welt, 28.3.2011
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2Â Wie funktioniert die Panikmechanik?
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»Werden Rentner zuletzt geimpft?«
Schlagzeile auf der S.1 von Bild auf dem Höhepunkt der Schweinegrippepanik 2009
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Die wichtigsten Zutaten zur Erzeugung irrationaler Angst haben wir im ersten Kapitel schon gesehen. Erstens: Vor allem die Existenz einer Gefahr betonen. In Hammelfleisch ist Dioxin, im Mineralwasser der Firma X ist E605, Skandal: Arsen in Kindertaschentüchern usw. Dabei Grenzwerte und Wahrscheinlichkeiten möglichst unterschlagen oder weit hinten im Text verstecken. Speziell dem Grenzwertthema wendet sich das nächste Kapitel noch ausführlich zu. Zweitens: Verwende freigebig das Zaubermittel Konjunktiv. Auch wenn noch nie ein Schaden vorgekommen ist, weise mahnend darauf hin, dass einer vorkommen könnte. Damit hat man immer recht. Schon Majestix wusste: Der Himmel könnte ihm auf den Kopf fallen. Genmais könnte die Erde mit einer grünen Schleimschicht überziehen. Ein Jumbo, oder der Halleyâsche Komet, könnte auf das Kraftwerk Biblis stürzen. Beim Verzehr von 50 Kohlrouladen täglich könnten Frauen schlechter schwanger werden usw. Der Phantasie sind hier ganz offensichtlich keine Grenzen gesetzt.
Bei den alten Juden waren nur Panikpropheten gute Propheten. Und das Schöne ist: Sie stehen am Ende
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