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Die Angst des wei�en Mannes

Titel: Die Angst des wei�en Mannes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Scholl-Latour
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ungezügelt ausgelebt. Am Ende stand wie ein mörderischer Taifun das kurze japanische Zwi schenspieldes Zweiten Weltkrieges. Das Hissen der Fahne mit der roten Scheibe der aufgehenden Sonne über der Molukken-See besiegelte 1942 den letzten Akt einer usurpierten Größe des Abendlandes. »Quis talia fando temperet a lacrimis – Wer vermag sich bei solcher Schilderung der Tränen zu enthalten?« beklagte der Held Aeneas im Epos des Dichters Vergil den Untergang von Troja. Man erlaube auch uns, am Ende dieses bunten Kaleidoskops fernen Weltgeschehens eine historische Träne zu vergießen.

Cantosexto
    CHINA
» Zittere und gehorche!«
Der Kaiser und die Hunnen
    Peking, im Juni 2007
    Also sprach Kaiser Wilhelm II. am 27. Juli 1900 bei der Verabschie dung des deutschen Ostasiatischen Expeditionskorps zur Nieder schlagung des Boxeraufstandes im Kaiserreich China:
    »Kommt Ihr vor den Feind, so wird derselbe geschlagen! Pardon wird nicht gegeben! Gefangene werden nicht gemacht! Wer Euch in die Hände fällt, sei Euch verfallen! Wie vor tausend Jahren die Hun nen unter ihrem König Etzel sich einen Namen gemacht, der sie noch jetzt in Überlieferung und Märchen gewaltig erscheinen läßt, so möge der Name Deutscher in China auf tausend Jahre dank Euch in einer Weise bestätigt werden, daß es niemals wie der ein Chinese wagt, einen Deutschen scheel anzusehen!«
    Der Wortlaut dieser Ansprache klang sogar in den Ohren des da maligen Reichskanzlers Chlodwig zu Hohenlohe-Schillingsfürst so exzessiv, daß er die anwesenden Journalisten auf eine stark ver kürzte und abgemilderte Version der »Hunnenrede« verpflichtete. Aber das Unheil war geschehen. Während des Ersten Weltkriegs sollte die britische Propaganda die Hunnen-Metapher aufgreifen und als Symbol für deutsche Barbarei anprangern.
    Wilhelm II.hatte sich in Bremerhaven auf die Ermordung des deutschen Gesandten Klemens von Ketteler durch die Aufrührer der Boxerbewegung bezogen. Bei besserer Geschichtskenntnis hätte er gewußt, daß das frühe christliche Abendland vor den asia tischen Horden des Hunnenkönigs Attila – bei den Germanen Et zel genannt – im Jahr 451 auf den Katalaunischen Feldern der Champagne durch eine Koalition von Römern und Westgoten ge rettet wurde. Bei zusätzlicher Recherche hätte er erfahren, daß das von ihm bewunderte nomadische Turkvolk der Hunnen – in Fern ost als Hsiung Nu bekannt und gefürchtet – schon vor unserer Zeit rechnung immer wieder die fruchtbaren Ebenen des Reichs der Mitte verwüstet hatte, ehe es sich als ungestüme Eroberer und »Geißel Gottes« gegen Westen wandte und entscheidend zur Völ kerwanderung der germanischen Stämme beitrug.
    Aber was scherte den letzten Hohenzollernherrscher »die Not der Nibelungen«? Das wilhelminische Reich beteiligte sich längst an der geplanten Aufteilung des Reichs der Mitte. Der Kaiser polemisierte hemmungslos gegen die »gelbe Gefahr« und gab ein Gemälde in Auftrag, auf dem die westlichen Völker unter deutscher Führung in heroisierendem Kitsch aufgerufen wurden, ihre »heiligsten Güter« gegen die feindlichen Horden zu verteidigen. Das patriotische deut sche Publikum erbaute sich ebenfalls an der Darstellung deutscher Marinefüsiliere, die zum Sturmangriff gegen die asiatischen Unter menschen ansetzen, nachdem ihnen das beglückende Kommando »The Germans to the Front!« erteilt worden war.
    »O tempora, o mores«, mag man einwenden. Das übrige Staa tenkonzert der weißen Menschheit stand den Deutschen in ihrer imperialen Expansionssucht ja keineswegs nach. Der Schlußstrich unter die anmaßende europäische Präsenz in China – ein halbes Jahrtausend nachdem die Portugiesen an der Küste von Kwantung ihre Dependenz Macao ausbauten – war erst im Dezember 1999 gezogen worden.
    Den Briten war es vergönnt, das Ende dieses ebenso grandiosen wie beschämenden Kapitels europäischer Weltherrschaft mit einem würdigen Finale zu zelebrieren. Unter sintflutähnlichen Monsun böenhatte sich die Wachablösung vollzogen. Eine kleine britische Garde-Einheit holte den Union Jack mit einem quasi liturgischen Ritual ein, während eine Vorausabteilung der chinesischen Volksbefreiungsarmee mit erstarrten Gesichtern und der Gestik von Robotern den letzten Teilfetzen kolonialer Erniedrigung dem Reich der Mitte wieder einverleibte.
    Gouverneur Chris Patten gab eine gute Figur ab, während der nasse Sturm ihm ins Gesicht klatschte. Im Platzregen gingen die Tränen verständlicher

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