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Die Angst des wei�en Mannes

Titel: Die Angst des wei�en Mannes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Scholl-Latour
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Trauer und Wehmut unter, die seiner Toch ter über das blasse Gesicht rannen. Laut Abkommen mit Peking wurde dem Hafen Hongkong und der Halbinsel Kowloon ein Son derstatus eingeräumt. Dem letzten Repräsentanten der britischen Krone war es gelungen, für die Einwohner des ehemaligen Empire-Juwels einige parlamentarische Sonderprivilegien durchzusetzen, an deren Gewährung zur Zeit der Kolonialherrschaft keine Regie rung im fernen London jemals gedacht hätte.
    Die Militärpräsenz der Deutschen im Reich der Mitte war schon nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs zu Ende gegangen. Der ver zweifelte Widerstand der kleinen kaiserlichen Garnison von Qing Dao brach im Feuer der anstürmenden Japaner zusammen. Diese Episode wurde in dem Erlebnisbericht Der Flieger von Tsingtau fest gehalten, den die meisten Pennäler der Weimarer Republik gelesen haben dürften.
    In den zwanziger Jahren hatte sich die Reichswehr von den wil helminischen Vorurteilen schnell befreit und gewährte dem Gene ralissimo Tschiang Kaischek und seiner Kuomintang-Armee in tensive Ausbildungshilfe. Vorübergehend stand diese strategische Kooperation unter dem Befehl des Generals von Seeckt. Als die Nationalsozialisten sich jedoch für eine enge Allianz mit Japan ent schieden und die fernöstlichen Untertanen des Tenno aufgrund ihrer kriegerischen Bravour gewissermaßen zu »Ehrenariern« er klärten, wurden die Beziehungen zur chinesischen Nationalregie rung, die sich aus Nanking in die unzugängliche Yangtse-Metro pole Tschungking abgesetzt hatte und engsten Kontakt zu den USA pflegte, jäh abgebrochen.
    Nachder Machtergreifung Mao Zedongs tat sich die Bonner Re publik besonders schwer mit der Anerkennung der kommunisti schen Volksrepublik. Es war vor allem dem diplomatischen Ge schick und der profunden Landeskenntnis der Botschafter Erwin Wickert und Konrad Seitz zu verdanken, daß Westdeutschland sich zu einer realistischen Einschätzung des immensen Potentials die ses erwachenden Giganten durchrang. Von seiner China-Visite kehrte der damalige Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger mit dem von vielen belächelten Ausspruch zurück: »Ich sage nur China, China, China!«
    Helmut Schmidt bewies in seiner Regierungszeit die ihm eigene staatsmännische Weitsicht, als er in der Abgeschiedenheit des Zhongnanhai den kaum noch verständlichen Äußerungen des halb gelähmten »Großen Steuermanns« aufmerksam lauschte. Helmut Kohl wiederum ließ sich durch das Protestgeschrei der Tibet-Lobby nicht hindern, seinen Staatsbesuch im Reich der Mitte durch einen Abstecher in die Autonome Region Tibet abzurunden und den Erben Mao Zedongs mit dem Pragmatismus zu begegnen, der ihn charakterisierte.
    Worauf sich die an Sinophobie grenzende Abneigung zurückfüh ren läßt, die immer wieder in den Reden deutscher Politiker und in den Kolumnen deutscher Journalisten aufkommt, ist schwer zu erklären. Bundeskanzler Schröder hätte sich am liebsten über das Lieferverbot moderner Waffensysteme an die Volksbefreiungsar mee resolut hinweggesetzt, aber er konnte seine ohnehin gespann ten Beziehungen zur Administration George W. Bushs nicht unbe grenzt strapazieren.
    Seine Nachfolgerin Angela Merkel hingegen huldigte der »political correctness«, wie sie von Washington vorgegeben war. Sie versäumte keine Gelegenheit, den roten Mandarinen von Peking ins Gewissen zu reden, sie mit erhobenem Zeigefinger auf die Einhaltung demokratischer und humanitärer Normen zu verweisen, denen die deutsche Diplomatie in anderen, weit skandalöseren Fällen nur geringe Bedeutung schenkte. Die Kanzlerin fühlte sich einer »werteorientierten Außenpolitik« verpflichtet und war sich offen barnicht bewußt, daß außerhalb des nordatlantischen Kulturkreises eine Reihe wirtschaftlich und machtpolitisch aufstrebender »Schwellenländer« über ganz andere gesellschaftliche Kriterien und Traditionen verfügen, um den Fortschritt und das Erstarken ihrer Völker zu forcieren.
    Am Beispiel Chinas offenbart sich mit betrüblicher Deutlichkeit, in welchem Ausmaß den Europäern und Amerikanern das ge schichtliche Bewußtsein abhanden gekommen ist. Die Fehldia gnose des Politologen Fukuyama vom »End of History« war auf allzu fruchtbaren Boden gefallen. So begegnet die westliche Welt dem phänomenalen Aufstieg Chinas in den Rang der zweiten Welt macht mit einem Gemisch aus Arroganz und Mißgunst. Noch hal ten allzu viele »Experten« an der Vorstellung fest, sie hätten es bei den 1,3 Milliarden

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