Die Angst des wei�en Mannes
Angehörigen der Han-Rasse mit einer unterent wickelten, allenfalls zum Plagiat westlicher Errungenschaften be fähigten Menschheitsgattung zu tun. Auf der anderen Seite erzeugt die explosive Dynamik Chinas wachsende Furcht, ja die Ahnung des eigenen Rückfalls in unerträgliche Mittelmäßigkeit.
Unter den Epigonen der letzten chinesischen Mandschu-Dyna stie hatte das Reich der Mitte den Anschluß an die Moderne ver paßt, erlag während einer Zwischenphase von 100 bis 150 Jahren einer tragischen Dekadenz. Der Drachenthron hatte sich dem Wahn hingegeben, der unübertreffliche Mittelpunkt der Welt zu sein. Durch diese Selbstüberschätzung geblendet, versäumte China die längst fällige Anpassung seiner gesellschaftlichen und produktiven Kapazitäten an die industrielle Revolution, während das imperiale Japan die Meiji-Erneuerung einleitete, die es ihm erlaubte, den wei ßen Hegemonialmächten des ausgehenden neunzehnten Jahrhun derts von gleich zu gleich zu begegnen.
Konfuziusund die Aufklärun g
Um die ungeheuerliche Bedeutung des Wandels zu begreifen, den die Erben Mao Zedongs nach dem Ableben dieses genialen und fürchterlichen Revolutionärs vollzogen, bedarf es eines Rückblicks, der über mehrere Jahrzehnte hinausreicht. Selbst zum Zeitpunkt ihrer tiefsten Erniedrigung, als die gewaltige Landmasse zwischen Shanghai und Urumqi den begehrlichen Aufteilungsabsichten der europäischen Kolonialmächte hilf- und wehrlos ausgeliefert schien, hatte sich bei dieser wimmelnden Bevölkerungsmasse niemals ir gendeine Form von Minderwertigkeitskomplex eingestellt, jenem Gefühl genetischer Unterlegenheit, das den unbefangenen und konstruktiven Umgang mit manch anderen Völkerschaften der »Dritten Welt« mit schier unüberwindlichen Vorbehalten belastet. Selbst in den Augen des hungerleidenden chinesischen Rikscha kulis in den internationalen Konzessionen am Huangpu blieb der weiße »Taipan« – so macht- und reichtumstrotzend er auftreten mochte – ein ungeschliffener Barbar.
Noch im Jahr 1972, als ich zum ersten Mal mit offizieller Erlaub nis die lange Strecke zwischen Peking und Kanton im Eisenbahn waggon bereiste, wurde dem wißbegierigen Ausländer ein Schau spiel geboten, dessen erdrückende symbolische Bedeutung sich erst in jüngster Vergangenheit in vollem Umfang offenbarte. Die große proletarische Kulturrevolution war zu jenem Zeitpunkt abgeflaut, aber sie bestimmte immer noch den Regierungskurs.
In Shanghai hatte unser offizieller Begleiter gleich am Tag der Ankunft uns zu jenem kleinen Park am Huangpu-Fluß geführt, dessen Zugang zur Zeit der internationalen Konzession angeblich durch ein Schild versperrt war: »Hunden und Chinesen verboten«. Im Hintergrund der Grünanlage erhoben sich die wuchtigen Mauerwerke der Banken und Geschäftshäuser des »Bund« zu jener pompösen Kulisse, wie sie nur das britische Empire in ein paar Hauptstädten Asiens hinterlassen hat. Am frühen Morgen hatten wir dort eine überwiegend ältliche Riege von Gymnasten gefilmt, die – das konzentrierteGesicht der aufgehenden Sonne zugewandt, ganz in Blau gekleidet – die zirkulär langsamen, beschwörerisch und weihe voll wirkenden Bewegungen des Tai Chi ausführten. Diese Leibesübungen waren aus fernster chinesischer Vergangenheit überliefert. Sie waren dem uralten taoistischen Streben nach langem Leben und Harmonie entliehen und wurden vom dröhnenden Rhythmus der Hymne »Der Osten ist rot« untermalt.
Dieser Triumphgesang ist heute seltsamerweise aus dem Angebot revolutionärer chinesischer Musik verschwunden. Die ehemaligen Trutzburgen des westlichen Kapitalismus an der Uferfront des Bund, die seinerzeit alles zu beherrschen schienen, sollte man heute, nach dem fieberhaften Ausbau einer monströsen, fast furchterre genden Skyline auf der ins Meer getriebenen Halbinsel Pudong, aus schwindelnder Höhe betrachten. Die Hochhäuser von einst sind auf die Dimension eines Spielbaukastens geschrumpft.
Nach relativ kurzer Unterbrechung findet China wieder zu jenem erhabenen Rang zurück, der ihm seit vier Jahrtausenden zusteht. »La Chine plus vieille que l’histoire«, formulierte Charles de Gaulle – »Suche die Wissenschaft bis hin nach China! – utlub el ’ilm hatta fi Sin«, heißt es in der Überlieferung des Propheten Mohammed. Zu dessen Lebzeiten hätte man eine entsprechende geistliche Be reicherung vergeblich im christlichen Abendland gesucht.
Die Päpste des Mittelalters waren sich der Bedeutung dieses ge
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