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Die Angst des wei�en Mannes

Titel: Die Angst des wei�en Mannes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Scholl-Latour
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entsteigt. Es handelt sich um eines jener Modelle, die der Länge eines Eisenbahnwaggons nahekommen und von den Amerikanern als stretch cars bezeichnet werden.
    Ich hatte den Präsidenten noch vom Winter 1992 im Gedächtnis, als er mich in Almaty, das man zu Sowjetzeiten Alma Ata genannt hatte, in einem neuen Prachtbau aus weißem Marmor zum Ge spräch empfangen hatte. Er schien seitdem nicht sonderlich geal tert. Der breit gewachsene, sehr asiatisch wirkende Mann betritt selbstbewußt die Ehrentribüne, die von einer riesigen weißen Jurte überschattet wird. Um ihn schart sich die Prominenz des Regimes und eine beachtliche Schar ausländischer Botschafter, die sich un tereinander aufgrund der ungeheuren Energiereichtümer Kasach stans einen erbitterten Einflußkampf liefern. Der finanzielle und in dustrielle Einsatz ist hoch in Kasachstan.
    Ich sehe mir die Anwesenden scharf an. Obwohl fast nur Kasa chen erschienen sind, die offiziell dem sunnitischen Zweig des Is lam angehören, trägt kaum eine Frau ein Kopftuch, von Tschador oder gar Burka ganz zu schweigen. Ein paar Damen der Oligarchie haben sich abenteuerliche Hüte aufgesetzt, die in die viktorianische Ära gepaßt hätten. Zu meinem Bedauern stelle ich fest, daß die meisten Einheimischen auf ihre traditionelle, schöne Tracht ver zichtet haben. Nur noch ein paar alte Männer tragen jenen hoch gestülpten Filzhut, der sich – nach Europa mitgebracht – so vorzüg lich als Wärmer von Kaffeekannen eignet.
    DerPräsident hält mit kräftiger Stimme eine Rede auf kasachisch, der offiziellen Landessprache, nachdem das Russische, das fast je der Bürger dieser Republik beherrscht, nur noch als zweites Amts idiom geduldet wird. Die Stimmung der Masse ist entspannt und freundlich. Diese Nachkommen von Nomaden neigen wohl nicht zum Überschwang. Die Aufmerksamkeit konzentriert sich auf ein Bataillon der Nationalgarde, das in perfektem Drill mit erdbraunen Uniformen angetreten ist. Die Mützen, ähnlich dem sowjetischen Vorbild, weiten sich zu riesigen Tellern aus. Aus den zu Stein er starrten Gesichtern der Soldaten spricht immer noch die Wildheit der Steppe. Nach einem Vorbeimarsch im Paradeschritt steigen ein paar besonders verdiente Militärs zu Nasarbajew empor und wer den mit einem Orden dekoriert.
    Ist sich dieser Machtmensch, der einst als Funktionär der Kom munistischen Partei der Sowjetunion seinen geduldigen Aufstieg vollzogen und sich dabei als überzeugter Marxist-Leninist verhal ten hatte, bevor er aus Moskau zum obersten Parteisekretär für die damalige Sowjetrepublik Kasachstan ernannt wurde, überhaupt noch bewußt, daß sein Vorname Nursultan, aus dem Arabischen ab geleitet, mit »lichtvoller Herrscher« übersetzt werden kann? Jeden falls war er mit bemerkenswerter Agilität, ja ganz selbstverständlich aus der Position des angepaßten Apparatschiks der KPdSU in die despotische Rolle eines durchaus orientalisch und asiatisch auftre tenden Emirs oder Khans hinübergewechselt, und das Volk lag ihm zu Füßen.
    Alle potentiellen Gegner hat er aus dem Weg geräumt, sowohl die panturanischen Nationalisten, die von einem Zusammenschluß aller Turkvölker schwärmten, als vor allem auch die religiösen Fana tiker, wo immer sie mit radikalen Predigten auftraten. Die höchste konfessionelle Autorität, so scheint es, das Amt eines lokalen Kali fen, beansprucht Nasarbajew für sich. Sein Schwiegersohn Alijew, der aus dem westlichen Ausland gegen seinen ehemaligen Gönner konspiriert und die landesübliche Korruption – unter Mißachtung der präsidentiellen Prärogativen – allzu weit zu seinen eigenen Gunsten hatte ausweiten wollen, verfiel dem Bannfluch des Sultans.
    DerFestakt endet – unter den Klängen einer orientalisch ver fremdeten Nationalhymne – mit dem Hissen einer riesigen Flagge Kasachstans, für die speziell ein künstlicher Hügel aufgeschichtet wurde, damit man sie von weit her sehen konnte. Es berührt mich eigenartig, als ich in diesem Symbol nationaler Souveränität, das sich im Wind bauscht, die himmelblaue Standarte des Welterobe rers Dschingis Khan wiedererkenne. Auch die goldene Sonne, die im Zentrum des Flaggentuchs aufleuchtet, hat einst den mongoli schen Horden den Weg gewiesen, als sie in unwiderstehlichem Ge waltritt bis nach Schlesien vorgedrungen waren.
    Schon am folgenden Tag ist das nächste Fest programmiert. Die ses Mal wird der 69. Geburtstag des Diktators gefeiert, und man kann sich bereits vorstellen, mit

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