Die Angst des wei�en Mannes
welchem Aufwand das 70. Wiegen fest begangen wird. Eine gigantische Bühne ist aus dem Gras gezau bert worden, zwei mächtige, geflügelte Pferde aus Pappmaché, die eine zu mystischer Vision gesteigerte Darstellung der glorreichen neuen Hauptstadt umklammern.
Zur Huldigung des Staatschefs treten diverse Ballette auf. Junge Männer führen wilde Schwerttänze auf, während Scharen von Ha rems-Darstellerinnen, nur spärlich bekleidet, sich zu lasziven Bauch tänzen wiegen, die in den meisten, in Prüderie erstarrten Ländern des Dar-ul-Islam längst den heiligen Zorn und das strikte Verbot der Ulama, der Mullahs oder der Hodschas herausgefordert hätten. Das Ganze gipfelt in einem Choral zu Ehren von Astana.
Die Frommen und die Sünder
Am frühen Morgen hatten wir einen russisch-orthodoxen Gottesdienst aufgesucht. Die Holzkirche war eines der ältesten Bauwerke der damaligen Festung Akmola und vor 150 Jahren für die Garnison des Zarenreichs errichtet worden. Sie war dem heiligen Constantin und der heiligen Helena geweiht. Über der Ikonostase prangtein farbenprächtiger Darstellung die Himmelfahrt Christi. Gemessen an den Beton- und Glasfassaden der Moderne erschien der Sakralbau recht unansehnlich, fast winzig, aber der junge, blonde Mönch, der uns bereitwillig Auskunft gab, verwies darauf, daß der Präsident – um seine Toleranz zu beweisen – den Bau einer stattlichen Kathedrale im neuen Stadtzentrum angeordnet habe.
Das Meßopfer war recht gut besucht, und die Gläubigen hörten nicht auf, nach byzantischem Brauch pausenlos das Kreuzzeichen zu schlagen. Die wiedererstandene Kirche Rußlands war auch in Kasachstan zum Träger und Symbol einer nationalen Neugeburt geworden, doch seit die Sowjetunion auseinanderfiel, sahen sich die christlichen Gemeinden in den sogenannten GUS-Republiken einer ständigen Abwanderung ausgesetzt. »Wir haben hier in den frühen neunziger Jahren eine regelrechte religiöse Aufbruchstim mung erlebt«, räumte der Pope ein, »aber diese Frömmigkeit ent sprach damals einem modischen Trend.« Heute könne nur noch ein Viertel der in Kasachstan lebenden Russen als fromme und ver läßliche Kirchgänger betrachtet werden. Bedenklich sei, daß vor allem die ältere Generation zur Religion zurückgefunden habe, während bei den Muslimen, die in Kasachstan recht zögerlich den koranischen Glauben wiederentdecken, die jungen Männer eine geschlossene und oft militante Gemeinde bilden.
Das Verharren der heiligen Orthodoxie in ihrer ererbten Litur gie und ihren schönen Hymnen unterscheidet sich vorteilhaft von der krampfhaften Anpassung an den Zeitgeist, dem sich so viele ka tholische Geistliche hingegeben haben. An der demographischen Auszehrung des prawoslawischen Archimandrats konnte jedoch auch die Rückwendung zum feierlichen Ritual der heiligen Kyrill und Method nichts ändern.
Wie viele Einwohner Astana zählt, ist umstritten. Die Zahl schwankt zwischen 600 000 und einer Million. Aber die ethnische Zusammensetzung hat sich drastisch verändert. Während sich im Akmola der Zaren und im Zelinograd der Sowjets der russisch ukrainische Anteil auf etwa achtzig Prozent belief, dürfte er heute auf ein Viertel abgesunken sein.
Ichfrage meine Begleiterin und Dolmetscherin Gulmira, eine vor züglich Deutsch sprechende Akademikerin, nach dem Verhältnis zwischen Kasachen und Russen. Ich habe die junge Frau zunächst für eine Russin gehalten, aber sie ist von Geburt Tatarin. In religiö sen Fragen sei sie nicht kompetent, wendet sie ein, denn sie sei als Atheistin aufgewachsen. Bemerkenswert sei jedoch, daß bei den 25 Millionen slawischen Zuwanderern, die zu Sowjetzeiten in den ehe maligen zentralasiatischen Teilrepubliken lebten, eine sich beschleu nigende Rückwanderung ins russische Mutterland stattfände. Ka sachstan, wo die Slawen fast die Hälfte der Einwohner ausgemacht hatten, sei davon noch weniger betroffen als etwa Tadschikistan oder Usbekistan, wo eine latente Feindseligkeit gegenüber den ehemali gen Kolonisatoren aufkomme. In Astana wache der Präsident per sönlich darüber, daß die völkische Harmonie gewahrt bleibe.
Ihre eigene Familie, so erklärt Gulmira, gehöre jener Gruppe von muslimischen, aber stark russifizierten Tataren an, die im neun zehnten Jahrhundert nach Kasachstan aufgebrochen waren und den recht ungebildeten Nomaden der Steppe einige Rudimente westli cher Zivilisation, aber auch eine rechtgläubige Interpretation des Islam vermittelt hätten. Heute
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