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Die Angst des wei�en Mannes

Titel: Die Angst des wei�en Mannes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Scholl-Latour
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voll bewußt, so erfuhr ich. Aber Präsident Nasarbajew wache darüber, daß es zu keiner Konfrontation mit den Russen komme. Hier beständen so viele organische Bande, daß sich ein plötzlicher Bruch äußerst nachteilig auswirken würde. Fast je der Kasache sei der russischen Sprache mächtig. Die massive sow jetische Einflußnahme, die im Rückblick auch durchaus positive Aspekte aufweise, sei schließlich einer eingeborenen Intellektuel len-Elite zugute gekommen.
    Der Staatschef verweigere sich seit der Unabhängigkeit jeder po litischen oder ideologischen Festlegung. Religiöse Parteien – ob sie nun in muslimischem oder in christlichem Gewand auftreten – würden nicht autorisiert. Natürlich sei die Regierung von Alma Ata an einer engen Zusammenarbeit mit den übrigen GUS-Republi ken Zentralasiens stark interessiert. Überhaupt keine Probleme gebe es mit den eng verwandten Kirgisen.
    Bis ins späte neunzehnte Jahrhundert waren die kirgisischen und kasachischen Nomaden nicht zu unterscheiden. Zum Islam hatten sich diese Hirtenvölker teilweise erst vor zweihundert Jahren un ter dem Einfluß zugewanderter Wolga-Tataren bekehrt, die einer koranischen Erneuerung, dem »Jadidismus«, zuneigten. Doch die schamanistischen Bräuche blieben lebendig. Von einer islamischen Wiedergeburt könne nur in jenen südlichen Regionen gesprochen werden, die bereits nach Usbekistan überleiten. Bei aller religiösen Toleranz sei es bisher gelungen, den sogenannten Fundamentalis mus in engen Grenzen zu halten. Das Beispiel der entsetzlichen Wirren in Tadschikistan habe wohl abschreckend gewirkt.
    Kasachstan gerät unweigerlich in den Sog seines gigantischen Nachbarn im Osten. Jenseits der Tien-Shan-Kette beginnt das chinesische Großreich. Nursultan Nasarbajew hat sich gegenüber Peking auf kluges Lavieren verlegt. Die Eisenbahnstrecke nach Urumqi,der Hauptstadt der Autonomen Region Xinjiang, ist vollendet. Seitdem strömen Scharen chinesischer Händler nach Ost-und Südkasachstan. Sie überschwemmen die Märkte mit ihren billigen, aber durchaus brauchbaren Konsumwaren. In einer ersten Phase handelt es sich bei diesen Importen um Thermosflaschen, gefütterte Jacken, Textilien aller Art und Haushaltsgeräte.
    Die Behörden von Alma Ata hüten sich davor, irgendwelche panturanischen Forderungen im Hinblick auf die muslimischen Turk-Völker im benachbarten Xinjiang aufkommen zu lassen. Die dortigen Uiguren müssen bei ihrer Bemühung um kulturelle Selbstbehauptung gegenüber der Masse zugewanderter Han-Chi nesen mit größter Zurückhaltung der Behörden von Alma Ata rech nen. Nasarbajew ist ein umsichtiger Politiker. Der Präsident bemüht sich darum, die in Xinjiang lebenden Kasachen zur Übersiedlung in seine unabhängige Republik zu bewegen.
    Sogar die kasachischen Nomaden, die im äußersten Nordwest bezirk der Mongolischen Republik die Mehrheit der Bevölkerung bilden, sollen – mit Zustimmung der Regierung von Ulan Bator – nach Kasachstan abwandern. Ganz eindeutig geht es Nasarbajew darum, den Anteil der autochthonen Bürger seiner Republik gegen über den immigrierten Russen, Ukrainern und Deutschen konse quent zu vermehren.
    Ich sprach Sultanow auf gewisse Spekulationen an, denen zufolge eine Aufteilung seiner Republik ins Auge gefaßt sei: Der slawisierte Norden solle der Russischen Föderation zufallen und der überwie gend türkische Süden das eigentliche Kasachstan bilden. Die russi schen Militärs, an ihrer Spitze der spätere Präsidentschaftskandidat Alexander Lebed, den ich kurz darauf in Tiraspol am Dnjestr tref fen sollte, fordern das mit Nachdruck, und vor allem, daß Moskau auch jene reichen Erdöl- und Erdgasreserven annektieren solle, de ren Wüstenlandschaft am Ostrand des Kaspischen Meeres kaum bevölkert ist. Schließlich seien die Grenzen der Sowjetrepublik Ka sachstan völlig willkürlich durch das Moskauer Politbüro entwor fen worden und könnten durch einen Ukas des Kreml auch wieder verschoben werden.
    Ähnlichhatte ja Nikita Chruschtschow die Annexion der Krim durch die Ukraine verfügt. Die Situation in Zentralasien unter schied sich in dieser Hinsicht von den beiden Republiken Ukraine und Belarus, die immerhin offiziell in der Vollversammlung der Vereinten Nationen vertreten waren. Auch der berühmte Schrift steller Alexander Solschenizyn, von dem Henry Kissinger behaup tet, seine politische Position situiere sich etwa rechts vom Zaren, hatte sich auf gleiche Weise zu Gunsten einer »Sammlung

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