Die Angst des wei�en Mannes
russi scher Erde« geäußert.
Bei Erwähnung dieses Themas erhitzte sich zum ersten Mal die Diskussionsrunde im Institut für strategische Studien. Eine solche »partition«, so lautete die einhellige Meinung, sei unerträglich. Sie werde zum offenen Konflikt führen. Da müsse Moskau sich darauf einstellen, mit einer blutenden Wehrgrenze zu leben, die sich quer durch die asiatische Steppe zöge.
Einer der Teilnehmer ging so weit, eine offene Drohung auszu sprechen. Falls sie wirklich expansionistische Ziele in Kasachstan anvisierten, dann sollten sich die Russen der Zeit des Iwan Kalita entsinnen. Das war ein massives Geschütz. Der russische Großfürst Iwan Kalita, zu deutsch »Iwan der Geldsack«, ist als der willfäh rigste, verächtlichste Vasall der Goldenen Horde in die Geschichte eingegangen. Er hatte die Tributleistungen an den tatarischen Groß-Khan auf Kosten seines eigenen Volkes mit extremer Härte ein getrieben und sich selbst dabei schamlos bereichert.
Plötzlich war in dem nüchternen Konferenzsaal von Alma Ata unter der blauen Fahne des Dschingis Khan die Erinnerung an das lange Tataren-Joch, das unauslöschliche historische Trauma der Russen, wieder aufgelebt. General Lebed hat das in einem Gespräch, das wir später in Swerdlowsk, das heute wieder Jekaterinburg heißt, führten, stark relativiert. Der hochdekorierte Veteran des Afghanistankrieges hatte begriffen, daß es für Moskau auf Dauer keinen Sinn machte, eine organische Union mit den überwiegend islamischen Nachfolgerepubliken der Sowjetunion zu suchen oder sie mit Gewalt zu erzwingen. »Ich habe am Hindukusch meine sehr persönlichen Erfahrungen mit den fanatischen Kriegern desIslam gemacht, mit ihrer Todesverachtung und einer religiös motivierten Bereitschaft zur Selbstaufopferung«, führte er aus. »In deren Kulturkreis haben wir nichts zu gewinnen. Nicht einmal bei den Tschetschenen, die ich persönlich hochachte, nachdem eine Anzahl von ihnen unter mir gedient und sich vorzüglich bewährt hat, hätten wir eine dauerhafte Chance.«
Auf meine hartnäckigen Fragen nach der Wiedergeburt des Islam erhielt ich recht unbefriedigende Antworten. Sultanow erteilte einer netten jungen Ethnologin, einer reinblütigen Kasachin, das Wort. Sie verwies darauf, daß die Botschaft des Koran bei den kasa chischen Nomaden – im Gegensatz zu Usbekistan und Tadschiki stan – nur recht oberflächlich Fuß gefaßt habe. Es existierten gewiß ein paar Sufi-Orden, deren Religiosität jedoch von schamanischen Bräuchen durchdrungen sei. Der Ahnenkult hingegen bleibe leben dig. Man solle sich andererseits durch die geringe Anzahl von Mo scheen nicht irreführen lassen. Zur Zeit der Gottlosen-Kampagnen seien die üblichen Teestuben, die »Tschekhanas«, oft als Gebetsräume benutzt worden. Die Problematik einer islamischen Revolu tion sei hingegen im benachbarten Usbekistan – dort besonders im Fergana-Becken – deutlich zu spüren. In Kasachstan handele es sich allenfalls um ein marginales Problem.
Am folgenden Tag begleitete ich Sultanow zu einem speziellen Zentrum für Islamistik. Wieder saß mir eine Frau gegenüber, eine reizlose, schüchterne Kasachin fortgeschrittenen Alters, die mir einen konfusen Vortrag über die Überwindung des Obskurantismus und des religiösen Aberglaubens hielt. Im Ton eines Agitprops warnte sie vor dem Hochkommen des Fanatismus. Als ich sie nach der vorherrschenden islamischen Rechtsschule in Kasachstan fragte – ich wußte sehr wohl, daß die sunnitischen Muselmanen Zentral asiens dem hanefitischen »Madhhab« anhingen –, versagten ihre bescheidenen Kenntnisse. Ich verwies Sultanow beim Abschied auf die Unzulänglichkeit dieser »Orientalistin«. Da lachte er schallend. »Sie sollten sich darüber nicht wundern«, meinte er. »Vor ein paar Jahren war diese Genossin noch Professorin für atheistische Ideo logie und für Gottlosen-Propaganda.«
»Demokratieist Ordnung «
Almaty, im Dezember 1992
Audienz beim Groß-Khan. Das Arbeitszimmer im Weißen Palast war zum Konferenzraum ausgeweitet worden. Die schweren Plüsch möbel entsprachen dem überlieferten Geschmack der roten Funk tionäre. Neben dem Schreibtisch war die blaue Mongolenfahne der Kasachen aufgestellt. Zwei Getreideähren sollten den kriegeri schen Charakter dieses Fanals etwas verharmlosen. Der Präsident trug einen gutgeschnittenen dunkelblauen Blazer mit Goldknöp fen. Das breite asiatische Gesicht war von eindrucksvoller Unbe weglichkeit, strahlte
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