Die Angst des wei�en Mannes
herabgleiten lassen, um ihre Fruchtbarkeit zu fördern und Kinder zu gebären. Als wir unseren »Fixer« ironisch und ungläubig mustern, erzählt er seine eigene Erfahrung mit diesem Zauberritual.
Er war bereits Vater eines Kindes, aber seine Frau wünschte sich einen zweiten Sohn. Sie beabsichtigte, zu diesem Zweck die heilige Rutschbahn von Tacht-i-Suleyman in Anspruch zu nehmen. Da sie aber aufgrund beruflicher Zwänge nicht in der Lage war, selbst nach Osch zu reisen, habe er stellvertretend für seine Gattin die Reise un ternommen und sich dieser eigenartigen Prozedur unterzogen. Kurz darauf habe seine Frau ihm mitgeteilt, daß sie schwanger sei. Für mich ist dieses Brauchtum nicht ganz neu, hatte ich doch ein Jahrzehnt zuvor in der Nähe der Stadt Van, im türkischen Nordkur distan, ein ähnliches Zeremoniell und eine beinahe identische kul tische Übung beobachten können.
Der Berg Salomons ist noch in anderer, historischer Hinsicht bemerkenswert. Hier hatte der letzte Herrscher der Timuriden-Dynastie, Zahiruddin Babur, als Enkel Tamerlans in Osch zur Welt gekommen, im Jahr 1526 vor dem Einfall feindlicher usbekischer Horden Zuflucht gesucht und ein bescheidenes Haus sowie eine kleine Moschee erbaut. Er war seinen Verfolgern nur knapp entkommen. Babur muß eine außergewöhnliche Persönlichkeit gewesen sein, denn nach diesem Rückschlag sammelte er ein paar Tausendschaften seiner Getreuen, überwiegend mongolischer Abstammung, fiel in Nordindien ein und gründete dort die Mogul Dynastie,die binnen kurzer Frist den größten Teil des Subkontinents unter ihre Gewalt brachte.
Zur Zeit Baburs und seiner Nachfolger entwickelte sich jene in disch-muslimische Hochkultur, deren unvergleichliche Prunkbau ten – das Taj Mahal von Agra gehört dazu sowie auch die grandio sen Moscheen von Delhi und Lahore – die Touristenströme aus aller Welt anziehen. Bis 1857 wurde der größte Teil Indiens von den Moguln beherrscht, dann rückten die Engländer von Süden heran, und das Britische Empire erlebte den Höhepunkt seiner Glorie, als Queen Victoria zur Empress of India ausgerufen wurde.
Der koloniale Übermut kannte damals keine Grenzen. »We don’t want to fight«, sang man zu Zeiten der großen Queen in den »mu sic halls« von London, »but by Jingo if we do, we’ve got the men, we’ve go the ships, we’ve got the money too, – wir suchen den Kampf nicht, aber – by Jingo – wenn wir dazu gezwungen sind, dann haben wir die Männer, wir haben die Schiffe und das Geld haben wir auch«.
Lenin als Trauzeuge der Oligarchen
Von Osch ist es nicht weit bis zur chinesischen Grenze. Ich hatte beschlossen, mich der »Autonomen Region der Uiguren«, der äu ßersten Westprovinz Xinjiang, so weit wie möglich zu nähern. Be vor wir die Straße in Richtung des Alaj-Gebirges und seiner Glet scher einschlugen, wurden wir am Eingang eines Parks durch eine festliche Versammlung aufgehalten.
Ein Mitglied der staatlichen Oberschicht, ein kirgisischer Oligarch, feierte dort die Hochzeit seiner Tochter und befolgte dabei eine Sitte, die auf die sowjetische Epoche zurückging. Das Brautpaar versammelte sich mit seinem Gefolge vor dem massiven Denkmal für die Gefallenen des Zweiten Weltkrieges. Die Gesellschaft, die sich hier zur Schau stellte, gehörte einer radikal anderen Welt anals die braven bäuerlichen Leute, die zum Zauberfelsen des Tachti-Suleyman gepilgert waren. Alle Anwesenden trugen schwarze, maßgeschneiderte Anzüge. Die Frauen bemühten sich um extravaganten Chic.
Das Brautpaar war in einer schneeweißen, endlosen Limousine vorgefahren, und jede Form von Luxus wurde protzend zur Schau gestellt. Auch hier ließ man uns ungehindert unsere Aufnahmen machen und gewährte uns noch eine Zugabe, mit der wir nicht ge rechnet hatten.
Die Neuvermählten – die Braut ganz in Weiß, stark geschminkt, durchaus attraktiv – legten zu Fuß die kurze Strecke zurück, die die Gedenkstätte für die Toten von einer gigantischen Leninstatue trennte. Der Held der Bolschewiken – in der üblichen, richtung weisenden Geste erstarrt – schien von den diversen Umstürzen und Volksaufständen, von den radikalen Veränderungen, die sich seit Auflösung seiner Sowjetunion eingestellt hatten, nichts wahrge nommen zu haben. Auch die »Tulpen-Revolution« hatte ihn nicht tangiert.
Die exklusive Hochzeitsgesellschaft, Nutznießer eines hem mungslosen Casino-Kapitalismus, den sie wie eine Orgie feierten, fanden es ganz natürlich,
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