Die Angst des wei�en Mannes
Überfälle und Ge waltakte häufen. Aus Pakistan wiederum sind grell bemalte riesige Laster über die Karakorum-Straße bis nach Osch gelangt. Nach Europäern, Russen oder Ukrainern hingegen haben wir vergebens Ausschau gehalten. Der slawische Bevölkerungsanteil Kirgistans, der einst auf ein Viertel geschätzt wurde, ist auf ein Minimum ge schrumpft.
Im Frühjahr 1995 hatte ich vergeblich versucht, vom tadschiki schen Ufer des Pjandsch bei Chorog über die Paßstraße des Pamir bis zu diesem Sammelpunkt aller nur denkbaren Geschäfte und Verschwörungen zu gelangen. Die fruchtbare Fergana-Senke war als Zentrum radikal-islamistischer Agitation berüchtigt. Aus der Ortschaft Namangan stammte der charismatische junge Führer der »Hizb-e-Tahrir«, der muslimischen Befreiungsfront, der 2001 un ter den Bomben der US Air Force den Tod fand. Im ehemaligen Khanat von Kokand hatten sich auch die Basmatschi am längsten gegen die erdrückende Übermacht der Roten Armee des General Frunse behauptet.
Bei einer usbekischen Kampfgruppe dieser aufsässigen Region hatten sogar im pakistanischen Grenzgebiet jene seltsamen deut schen Konvertiten der sogenannten Sauerland-Gruppe ihre militä rische Ausbildung erhalten.
Kurzum, Osch ist Knotenpunkt künftiger Konflikte. Wladimir Putin weiß sehr wohl, wie nützlich ihm der zusätzliche russische Militärstützpunkt sein würde, der neben der bereits bestehenden Basis von Kant bei Bischkek in unmittelbarer Nähe von Osch gegen Zahlung einer stattlichen Summe an den kirgisischen Präsidenten Bakijew ausgebaut wurde.
DieStadt Osch habe keine besonderen Sehenswürdigkeiten zu bieten, sagt man abfällig in Bischkek. Aber der Felsenhügel Tacht i-Suleyman ist für manche Überraschung gut. Zu seinen Füßen hat sich eine Gruppe alter Männer und Frauen versammelt, hockt un ter einem Dach im Pagodenstil. Sie begrüßen mich freundlich, als ich mich in ihrer Nähe niederlasse, und fahren in ihrem Gemurmel fort, das ich allmählich als eine Art »Dhikr«, die permanente Lob preisung der Einzigkeit Allahs, erkenne.
Der Aufstieg zum Gipfel des Salomon-Berges ist steil und müh sam. Trotzdem schleppen sich zahlreiche Pilger fortgeschrittenen Alters auf diese Höhe. Dort bietet sich uns ein Schauspiel, auf das wir in keiner Weise gefasst sind. Wir wohnen einer Teufelsaustrei bung, einem Exorzismus, bei, der uralte Schamanenbräuche wie derbelebt. Zehn in weiße Gewänder gehüllte Frauen haben sich im Kreis versammelt. Zu ihren Füßen liegt eine Frau, deren gellendes Schreien in düsteres Röcheln übergeht. Ihre Zuckungen und Ver renkungen wirken in der Tat wie die Qualen einer Besessenen, ob wohl ein aufgeklärter Arzt möglicherweise die Symptome von Epi lepsie diagnostiziert hätte.
Eine alte Frau, die wohl als Priesterin fungiert, schlägt in regel mäßigem Takt mit einem Stock auf das unglückliche Wesen ein, dessen sich ein böser Dämon, ein Jinn oder gar der »gesteinigte Sa tan« bemächtigt hatte. Unaufhörlich wiederholt der Chor den Re frain: »La illaha illa Allah – Es gibt keinen Gott außer Gott«, wie das bei den Sufi-Orden oder Tarikat üblich ist. Die Gruppe läßt sich ohne Widerspruch bei ihrem dämonischen Treiben filmen.
Am meisten überrascht mich die Reaktion meines Begleiters, den ich als Mann von Welt kennengelernt habe, der mehrere Fremd sprachen beherrscht und nicht nur Europa, sondern auch Amerika im Auftrag des kirgisischen Außenministeriums bereist hat.
Es handele sich hier keineswegs um Scharlatanerie oder obskurantistischen Hexenwahn, erklärte er uns, während die besessene Frau sich allmählich zu beruhigen scheint. Hier seien echte Zauberkräfte am Werk. Seine Großmutter, das könne er bezeugen, habe noch über magische Kräfte verfügt und sei in der Lage gewesen, jedeKrankheit zu heilen, wenn es sich nicht gerade um Knochenbrüche handelte. Die muslimische Geistlichkeit stehe in dieser Gegend in einem sehr zwielichtigen Ruf. Für Geld könne man nämlich einen Mufti dazu bewegen, über eine verhaßte Person Fluch und Unheil zu bringen, während andere Religionsdiener sich bestechen ließen, um Vorteil und Glück herbeizuzaubern. Orasbek selbst scheint von diesem Aberglauben zutiefst durchdrungen.
Ein noch seltsamerer Brauch spielt sich an einem schrägen, glat ten Felsblock ab, den Männlein und Weiblein als eine Art Rutsch bahn benutzen. Sie versprechen sich davon die Befreiung von rheu matischen Leiden, während die jungen Frauen sich
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