Die Angst des wei�en Mannes
die zweitgrößte Ortschaft Kirgistans, ist in eine riesige Mulde gebettet und wird im Süden von drei steilen Felshöhen überragt, die wir zu dieser späten Stunde nicht mehr erkennen können.
Mit dem höchsten dieser Berge, Tacht-i-Suleyman genannt, ver bindet sich eine seltsame Legende, die ins fernste Altertum verweist. An diesem Knotenpunkt Zentralasiens hatten sich die unterschied lichsten religiösen Vorstellungen abgelöst: heidnisches Schamanen tum, die Lehre Zarathustras, die dualistischen Vorstellungen der Manichäer, der Theravada-Buddhismus und dann die nestoriani sche Form des Christentums. Am Ende hat der Islam alles überla gert, aber die Mythen der Jahrtausende wurden nicht ausgelöscht. So bleibt in der Person des hebräischen Königs Salomon, der im Koran als Prophet und Vorläufer Mohammeds geehrt wird, die bib lische Überlieferung bewahrt.
Der Name »Osch« ist angeblich darauf zurückzuführen, daß Sa lomon oder Suleyman zu Füßen des nach ihm benannten Felsens den fruchtbaren Boden so lange mit seinen Ochsen gepflügt hatte, daß ihm der Mühe zuviel wurde und er seine Arbeit mit dem Aus ruf »chosch« – es ist genug – ermattet einstellte.
Als ich im Hotel de Luxe eine schmuddelige, aber extrem geräu mige Suite betrat, deren überbreites Bett mit einem befleckten Tuch zugedeckt war, kam mir der Ausspruch Salomons in den Sinn. Ich ließ mich mit dem Wort »chosch« erschöpft auf die Liege fal len und versank in einen erlösenden Tiefschlaf.
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Die Fahrtdauer von Bischkek bis Osch war uns fälschlich mit acht Stunden angegeben worden. In Wirklichkeit mußten wir fünfzehn Stunden lang durch eine grandiose Felslandschaft kurven, einen Paß von 3600 Meter überwinden und einer aus militärischen Gründen gut asphaltierten Straße folgen, deren verschlungener Verlauf der Willkür einer wilden Natur, vor allem aber der absurden Grenzziehung zu verdanken war, mit der Josef Stalin die sowjetischen TeilrepublikenZentralasiens zerstückelt hatte. Damit wollte er verhindern, daß sich hier eine einheitliche Nationalität herausbilden könnte.
In dieser zerklüfteten Region, die zum Pamir-Gebirge überleitet, boten sich uns großartige Bilder. Die Gesteinsformationen ragten wie surrealistische Skulpturen über schäumenden Gewässern. Wo immer ein Weideplatz auftauchte, hatten die kirgisischen Viehzüch ter ihre weißen Jurten aufgeschlagen. Die munteren Mongolen pferde galoppierten um die Wette. Es war eine herrliche Fahrt, aber nach spätestens zehn Stunden erlahmte unsere Begeisterung für diese romantische Felskulisse.
In endlosen Schleifen umkreisten wir den Toktokul-Stausee, und von nun an nahm uns eine bedrohliche Finsternis auf. Am Ortsein gang von Osch war mir im Vorbeifahren ein relativ stattliches Ho tel aufgefallen, das sich vorteilhaft von unserer Herberge »de Luxe« unterschied. Warum wir uns dort nicht einquartiert hätten, fragte ich unseren »Fixer« etwas unwirsch. Aber der lehnte lachend ab. »Dort treffen sich nur Verbrecher und Huren«, sagte er, »und Sie hätten um Ihre Kamera-Ausrüstung – wenn nicht um Ihr Leben fürchten müssen.«
Am folgenden Morgen sieht alles sehr viel harmloser aus. Das Marktgelände ist ein riesiger Basar, wo laut Orosbek alles zu finden sei, von den süßesten Trauben der Welt aus der Oase Turfan bis zum erstklassigen Heroin. Das überreichliche Angebot an Textilien kommt ausnahmslos aus dem benachbarten China, während die spottbilligen Sturmgewehre vom Typ Kalaschnikow aus irgendwel chen Banden-Arsenalen Afghanistans stammen. Fast ebenso viel fältig wie das chinesische Warenangebot sind die diversen Rassen, die sich dort ein Stelldichein geben. Neben Usbeken, Kirgisen, Kasachen und Tadschiken sind die Koreaner stark vertreten, die Stalin einst in einer despotischen Laune aus ihrem Siedlungsgebiet an der mandschurischen Grenze nach Zentralasien verfrachtet hatte.
Am aktivsten und erfolgreichsten betätigen sich angeblich die »Dunganen«. So bezeichnete bereits der schwedische Forscher SvenHedin jene reinrassigen Han-Chinesen, deren Vorfahren sich zum Islam bekehrt hatten und denen Mao Zedong unter dem Namen »Hui« sogar den Status einer gesonderten Nationalität sowie die Autonome Region von Ningxia in der nördlichen Schleife des Hoang Ho zugewiesen hatte.
Auch Uiguren aus der benachbarten chinesischen Westprovinz Xinjiang treten in wachsender Zahl auf, seit sich in ihrer »Autono men Region« der Volksrepublik die bewaffneten
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