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Die Angst des wei�en Mannes

Titel: Die Angst des wei�en Mannes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Scholl-Latour
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sich vor dem Symbol der proletarischen Revolution ablichten zu lassen.
    *
    Während der Landrover uns über steile Pässe in Richtung Osten befördert, erhitzt sich unser Begleiter Orosbek mit plötzlicher Ve hemenz. »Sie haben eben ein paar Exemplare der Mafia, eine Bande von Betrügern gesehen, die uns regieren«, schnaubt er. »Diese Ausbeuter haben durch Betrug riesige Vermögen erworben und schämen sich nicht, ihre Korruption und Verderbtheit vor den armen Leuten auszubreiten.«
    Unter Präsident Akajew sei es gesitteter zugegangen als unter dem Nachfolger, den die Amerikaner durch die »Tulpen-Revolution« an die Macht gebracht hatten. Schon würde ein großer Teil derBevölkerung dem früheren Sowjetsystem nachtrauern. Da seien die bescheidenen Renten der Alten wenigstens ausgezahlt worden, und jeder habe recht und schlecht einen Arbeitsplatz gefunden. »Der Westen soll sich nicht wundern«, fährt der »Fixer« fort, »wenn das Verlangen des Volkes nach einem Minimum an Gerechtigkeit und Tugend jenen Kräften Auftrieb gibt, die dem strengen egalitären Islam der Taleban nahestehen und auf ihre Stunde warten.«
    Zu beiden Seiten unserer Wegstrecke bieten sich Bilder, die zu einer phantastischen Geschichtsverfilmung gepaßt hätten. Das Le ben rund um die Jurten hat seine wilde Ursprünglichkeit bewahrt, und die berittenen Trupps von Kirgisen unter dem typischen Filz hut scheinen die kühne, furchterregende Kampflust ihrer Vorfah ren geerbt zu haben. Es ist ein grauer, diesiger Abend. Die gewal tige Felsbarriere, hinter der sich die geballte Macht des Reiches der Mitte bis zum Pazifik erstreckt, stellt sich uns wie eine düstere Mauer in den Weg.
    Unser »Fixer« weist uns auf die rasch zunehmende Dämmerung hin. »Wir sollten die Rückfahrt nach Osch antreten«, schlägt er vor. »Die Chinesen sind zwar dabei, in den engen Schluchten, die sie mit ihren Nachbarn verbinden, ihr Straßennetz intensiv auszubauen, so gar der Paß, der zum schmalen Wakhan-Zipfel Afghanistans über leitet, soll in einer Höhe von 5000 Metern überwunden werden. Der chinesischen Volksbefreiungsarmee stände dann im Notfall der Weg nach Kabul offen.« Aber seit ein paar Tagen sei die Situation im Grenzgebiet von Xinjiang besonders angespannt. Ich hätte ja sicher von den schweren Zwischenfällen gehört, die sich in der Hauptstadt der Uiguren-Region, in Urumqi, abgespielt hätten.
    Bereits in Aktau hatte ich über CNN die spärlichen Fernsehbilder, die die blutigen Zusammenstöße in der äußersten chinesischen Westprovinz übermittelten, mit brennendem Interesse verfolgt. Der Rat unseres Betreuers leuchtet mir ein. Wir machen kurz Rast. Während ich mich vom Team absondere und – auf einem Felsblock hockend – meine täglichen Notizen vervollständige, kommt mir plötzlich eine imperiale Anekdote ins Gedächtnis, die sich in die serGegend um das Jahr 1900 abgespielt hatte. Bei der Begegnung zwischen Repräsentanten der damaligen Rivalen im »Great Game« – Russen und Engländern – kam bei aller Erbitterung eine Gesit tung, eine Courtoisie zum Ausdruck, die man in den rüden, pole mischen Umgangsformen unserer Tage vergeblich suchen würde.
    Aber lassen wir den Captain Younghusband mit seiner eigenen Schilderung zu Wort kommen: »Während ich heranritt, trat ein gutaussehender Mann mit Bart in russischer Uniform aus seinem Zelt, um mich herzlich zu begrüßen.« Der Brite folgte der Einla dung seines Gegenspielers. Das Dinner war eine sehr üppige Mahl zeit, die mit Wodka reichlich begossen wurde. Bei Begegnungen ähnlicher Art haben sich die jeweiligen Emissäre, Gott weiß wie, mit Champagner und Bordeaux bewirtet. Ganz unverblümt kam das Gespräch auf die russischen Eroberungsabsichten. »Würdet Ihr gern nach Indien marschieren?« fragte der Russe Gromtschewski seine Kosaken, und die antworteten mit einem dröhnenden Hurra.
    Die beiden Offiziere diskutierten sehr freimütig über die Chan cen einer russischen Offensive in diesem extrem widrigen Gelände. Gromtschewski rühmte die schier unbegrenzte Leidensfähigkeit seiner Soldaten. Younghusband seinerseits verwies auf die Ver wundbarkeit der Nachschubwege, mit denen die zaristischen Ar meen in den unsicheren Weiten Zentralasiens rechnen müßten. So debattierte man bei Wodka und Blinis.
    Am folgenden Tag tranken die beiden noch eine letzte Flasche Brandy leer, die Younghusband in seinem Gepäck mitführte. Man trennte sich auf höchst protokollgerechte Art als Offiziere

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