Die Angst des wei�en Mannes
In den zuständigen Ministerien Lissabons hingen Plakate an den Wänden, die die sogenannten Überseeprovinzen auf eine Karte Europas projizierten. Das ergab eine Landmasse, die sich vom Atlantik bis tief nach Rußland er streckte. Darüber stand die Beteuerung: »Portugal ist kein kleines Land.«
Ohne den Besitz von Angola und Mosambik, so verkündeten die Propagandisten Salazars, würde Portugal in die Rolle eines armen, schmächtigen Randstaates Europas verwiesen. Ohne die Kolonien wäre seine Wirtschaft kaum lebensfähig. Gingen die Überseebesitzungen verloren, bliebe am Rande der Iberischen Halbinsel nur ein folkloristischer Tummelplatz für Touristen übrig, wo Vinho Verde getrunken und Fado gesungen würde. Mit tiefer Erbitterung wurde am Tejo zur Kenntnis genommen, daß das Territorium von Goa, das frühere Bollwerk und Juwel Portugals am Indischen Ozean, durch den indischen Ministerpräsidenten Jawaharlal Nehru mili tärischüberrumpelt und seiner subkontinentalen Union einverleibt wurde.
Die Portugiesen brauchten lange, um zu begreifen, daß Oliveira de Salazar sie in ein hoffnungsloses Rückzugsgefecht verwickelt hatte. In der Presse Lissabons und Luandas war vom Heldenmut der Soldaten und Siedler zu lesen. Die Leitartikler schwelgten in einem patriotischen Pathos, das vergeblich an den getragenen Stil der »Lusiaden« anzuknüpfen suchte. Um die Amerikaner zu beein drucken, wurden der marxistisch-leninistische Hintergrund sowie die Komplizenschaft der Sowjetunion mit den schwarzen Rebellen propagandistisch aufgebauscht. Der greise Salazar wurde 1968 durch einen Schlaganfall gehindert, weiterhin die Staatsführung auszuüben, und starb zwei Jahre später.
Daß der Kolonialkrieg sich noch bis 1974 hinschleppte, ist durch die politische Paralyse zu erklären, die sich sogar der intellektuel len Eliten bemächtigt hatte. Es waren am Ende nur die Militärs der Afrika-Armee – nachdem sie dreizehn Jahre lang die Bürde eines aussichtslosen Feldzuges und die Verbohrtheit eines mumifizierten Regimes auf ihren Schultern getragen hatten –, die im April 1974 der Tragödie ein Ende setzten, einen radikalen Umsturz sowie den kolonialen Verzicht erzwangen. Der Putsch ist unter dem Namen »Nelkenrevolution« in die Annalen eingegangen. Den Kern des Aufbegehrens bildete eine Gruppe progressistisch und sozialistisch motivierter Offiziere. Dabei wirkte es paradox, daß der ultrakonser vative General de Spinola, der in Portugiesisch-Guinea mit libera len Reformen versucht hatte, dem schwarzen Nationalismus den Wind aus den Segeln zu nehmen, sich als Vaterfigur und weithin verehrtes Symbol dieses Umsturzes bewährte.
Aus jenen Tagen des begeisterten Trubels am Tejo bleibt mir die Erinnerung an ein revolutionäres Musical, das ich im August 1974 am Vorabend meines Abflugs in die brodelnde angolanische Hauptstadt Luanda besucht hatte. Auf der Bühne des »Teatro Maria Matos« brach antiklerikale Leidenschaft durch, als ein Bischof in feuerrotem Ornat mit der Jungfrau von Fatima im Hintergrund das Volk zum Gehorsam vor der weltlichen und kirchlichen Hierarchie aufrief:Gehorsam der Frau vor dem Mann, Gehorsam des Dieners vor dem Lohnherrn, Gehorsam des Schwarzen vor dem Weißen. Es folgte eine Zirkusszene im Stil Fellinis: ein aufgeputschtes Weib, das die Pseudoverfassung nach Maßgabe des »Estado Novo« darstellte, ein Menschenaffe, der mit der Fistelstimme des verstorbenen Diktators Salazar fromme Platitüden verlas, das geknechtete Volk als traurige Clowns, im Hintergrund die Folterknechte der Geheimpolizei Pide.
In der Endszene wurde der Krieg in Afrika dargestellt. Ein Ko lonialist in Khakihemd und Tropenhelm verkündete: »Angola é nossa!« Eine Sklavenstimme erläuterte, daß die Bodenschätze der portugiesischen Kolonien längst internationalen Monopolen ver pfändet seien. Doch der Kolonialist proklamierte weiter: »Portugal não se vende« – Portugal wird nicht ausverkauft. Ein junger por tugiesischer Rekrut begegnete dem Aufstand der Schwarzen. Er mähte eine Gruppe von Freiheitskämpfern mit seiner Maschinen pistole nieder. Aber da standen immer neue afrikanische Nationa listen auf, und der weiße Soldat fiel als sinnloses Opfer. Im Finale sangen Schauspieler und Zuschauer in begeistertem Chor vereint den utopischen Vers, der mir bereits aus dem Chile Salvador Allen-des vertraut war: »O povo unido jamais será vencido« – Ein geein tes Volk wird niemals besiegt werden. Ein Kind trat nach vorn mit der
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