Die Angst des wei�en Mannes
Rückgewinnung der eigenen Souveränität und der Loslösung von der spanischen Krone wurde Portugal zum Spielball der Mächte und erstarrte in Lethargie. Wenn die Eigenstaatlichkeit und ein im mer noch beachtlicher Überseebesitz erhalten blieben, so war das der engen Anlehnung Lissabons an Großbritannien zu verdanken. Die napoleonische Eroberung der Iberischen Halbinsel sollte die Abspaltung Brasiliens zur Folge haben, das sich ab 1822 zunächst als unabhängiges Kaiserreich konstituierte. Die riesigen afrikani schen Territorien von Angola und Mosambik zumal waren einer solchen Vernachlässigung und Mißwirtschaft anheimgefallen, daß vor dem Ersten Weltkrieg Briten und Deutsche vorübergehend über deren Aufteilung verhandelten.
Wer kümmerte sich da schon um den kümmerlichen Außen posten Ost-Timor, wo die eingewanderten Chinesen zahlreicher waren als die Portugiesen und der Handel mit Sandelholz seine wirtschaftliche Bedeutung verloren hatte? Im Jahr 1915 wurde zwar ein letzter verzweifelter Aufstand der Eingeborenen grausam nie dergeschlagen, aber auch die Einführung der Zwangsarbeit auf den Plantagen brachte keinen nennenswerten Gewinn. Außerhalb der dahindämmernden Hauptstadt Dili war in Ost-Timor nicht ein ein ziger Kilometer Asphaltstraße gebaut worden.
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Das Erwachen war fürchterlich. Mit dem japanischen Angriff auf Pearl Harbor im Dezember 1941 setzte im ostasiatisch-pazifischen Raum eine sensationelle Zeitenwende ein. Der Ferne Osten hatte auf mich schon als Kind eine seltsame Anziehungskraft ausgeübt. So hatte nicht nur die stark romantisierte Legende des baltischen BaronsUngern-Sternberg, die Welt der mongolischen Götter und Dämonen, meine junge Phantasie beflügelt. Ich entwarf in meinen frühen Gymnasialjahren Landkarten von dem erobernden Vordringen der Armeen des Tenno in Richtung Peking, Schanghai und Kanton. Den Kriegsausbruch zwischen den Vereinigten Staaten und Japan verfolgte ich mit intensiver Spannung und ahnte nicht, daß ich wenige Jahre später als aktiver Zeitzeuge in die Wirrnisse des Fernen Ostens einbezogen werden würde.
Beim Geographieunterricht am Kasseler Wilhelms-Gymnasium stellte uns der Geographielehrer, der durchaus kein Nazi war, aber auf den Sieg Deutschlands hoffte, die Allianz mit diesem seltsamen gelben Volk, das so gar nicht in die Vorstellungen der nordischen Herrenrasse hineinpaßte, als ein Geschenk des Schicksals dar. Auf den Schulbänken diskutierten wir ausgiebig den explosionsartigen Zugriff des Kaiserreichs Nippon, das sich blitzartig die Philippi nen, ganz Hinterindien, den Salomon-Archipel, die Halbinsel von Malacca und den kolossalen holländischen Kolonialbesitz Indone sien einverleibte.
Als die Sturmtruppen des Tenno auch auf Neuguinea landeten und über den Kokoda-Trail bis in die unmittelbare Nachbarschaft Australiens vorstießen, hatten die Stäbe des Empire – wie ich spä ter erfuhr – für den Extremfall den strategischen Rückzug auf eine Verteidigungslinie geplant, die von Brisbane bis Adelaide gereicht und die endlosen Wüstenflächen des Fünften Kontinents dem Feind überlassen hätte.
Schon im Februar 1942 bemächtigten sich die Japaner der Insel Timor. Sie stießen dort weniger auf den Widerstand der Holländer als auf den perfekt geführten Partisanenkrieg einer kleinen Truppe australischer Dschungelkämpfer, der sogenannten Sparrow Force. Gegen eine Übermacht von 20 000 Gegnern haben sich die »Aussies« bis 1943 in einer vorbildlichen Guerrilla behauptet. Obwohl Portugal im Zweiten Weltkrieg seine Neutralität proklamiert hatte, wurde die Kolonie »Timor-Leste« beinahe zwangsläufig in die Gefechte einbezogen. Anstatt die Japaner als asiatische Brüder und Befreier zu begrüßen, machte die Mehrheit der kriegerischen Ein geborenenstämmegemeinsame Sache mit den Australiern. Auch sie wurden Opfer der brutalen Besatzungsmethoden des Aggressors. Etwa 50000 Timoresen fanden bei den Partisanenkämpfen und der sie begleitenden unerbittlichen Repression den Tod.
Nach der Kapitulation des General Tojo im August 1945 auf dem US-Schlachtschiff Missouri und dem Zusammenbruch der japani schen Träume von einer »Groß-Ostasiatischen Wohlstandssphäre« glaubten die europäischen Kontinentalstaaten Frankreich und Nie derlande, ihre vorübergehend an Japan verlorengegangenen Besit zungen in Fernost wieder an sich reißen zu können. Ohne Sinn für die neue geopolitische Wirklichkeit setzten sie zur anachronisti schen Rückeroberung
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