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Die Angst des wei�en Mannes

Titel: Die Angst des wei�en Mannes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Scholl-Latour
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auf Befehl des spa nischenVizekönigs gevierteilt wurde. Aber bei den Tupamaros von Montevideo habe ich vergeblich nach einem einzigen indianischen Ureinwohner gesucht.
    Eine wirkliche Wende könnte eingesetzt haben, seit in Venezuela der Oberstleutnant Hugo Chávez zum Präsidenten gewählt wurde, jener athletische Caudillo im roten Hemd, der seine Gefolgschaft bei den armen Leuten der Barrios von Caracas findet und schon manches Umsturzkomplott der amerikanischen CIA überlebte. Von Chávez heißt es, daß er möglicherweise ein »Zambo«, ein in dianisch-afrikanischer Mischling, sei. In Bolivien hingegen hat sich Evo Morales, ein reiner Indianer vom Anden-Volk der Aymara, der Präsidentschaft bemächtigt. Auch er sieht sich ständigen Komplot ten einer weißen Oligarchie ausgesetzt, die ihre Latifundien im Tiefland noch wie zu Kolonialzeiten verwaltet.
    Bei den meisten Staatschefs Lateinamerikas, deren Untertanen sich einst der schamlosen Ausbeutung durch amerikanische Mono polgesellschaften, der »United Fruit« zumal, ausgeliefert sahen, vollzieht sich eine zunehmende Verselbständigung und Distanzie rung von den Hegemonialallüren Washingtons, auch wenn der ul trakonservative Kolumbianer Álvaro Uribe im Kampf gegen linke Revolutionäre amerikanische Soldaten, »Contract Workers« und andere Milizen ins Land geholt hat, um die Kartelle der schwerbe waffneten Narcotraficantes durch Gegenterror zu brechen.
    Das wirkliche Problem für die USA heißt Mexiko. Die Grenzstadt Ciudad Juárez ist bereits ins Chaos der violencia abgeglitten. Hier trennt nur das Rinnsal des Río Grande del Norte diese Hochburg des Verbrechens von der texanischen Drehscheibe El Paso, wo sich binnen zwanzig Jahren eine gründliche Bevölkerungsumschichtung vollzogen hat. Seien es naturalisierte US Citizens oder illegale »wetbacks«, die Mexikaner machen in El Paso inzwischen neunzig Prozent der Einwohnerschaft aus. Ähnlich verhält es sich entlang der endlosen Grenze, die sich von Laredo in Texas bis Tijuana in Baja California hinzieht. Die illegale Immigration der Latinos kann durch Drahtzäune und andere Sperren behindert werden, aber die amerikanische Border Police ist sich ihrer relativen Ohnmachtbewußt. Die Überflutung der USA durch eine Masse von Zuwanderern aus Mittel- und Südamerika, wobei Mexiko weit an der Spitze liegt, hat die ethnische Zusammensetzung der US-Bürgerschaft, vor allem auch des US-Wählerpotentials, so gründlich verändert, daß es sich ein Congress-Abgeordneter reiflich überlegen muß, ehe er zur Treibjagd auf die Eindringlinge bläst.
    Die größte Überraschung erlebte ich, als ich in Minneapolis, einer Stadt nahe der kanadischen Grenze, die mir sehr vertraut ist, den schier unaufhaltsamen Zustrom der Latinos konstatierte. Bis vor kurzem gab es hier nur eine kleine Zahl von »Negroes« und herun tergekommenen Indianern, während die eigentliche Substanz skan dinavisch und deutsch war. Neuerdings gehört es in Minneapolis zum guten Ton, die eigenen Kinder auf eine neugegründete Schule zu schicken, deren Hauptunterrichtssprache Spanisch ist.
    Im Krieg von 1846 hatte Washington, nachdem es bereits die Sezession von Texas begünstigt hatte, das Territorium der Estados Unidos Mexicanos etwa um die Hälfte reduziert. Die heutigen US-Bundesstaaten Kalifornien, Neu-Mexiko, Arizona, Nevada und Co lorado wurden kurzerhand annektiert. Inzwischen findet hier eine Revanche, eine Art Reconquista statt. Die Sprache Cervantes’ ver drängt Schritt um Schritt die bislang exklusive Dominanz des An gelsächsischen. Eine gewisse Anhänglichkeit gegenüber den hispa nischen Herren von einst ist offenbar – trotz aller Verehrung für die Helden der Unabhängigkeit Simón Bolívar und San Martín – selbst beim einfachen Volk erhalten geblieben. So ist es nicht selten, daß sogar auf Kuba Besucher aus Spanien von farbigen Inselbewohnern als Söhne und Töchter der »madre patria« gefeiert werden.
    Am bittersten ist Frankreich durch die Entkolonisierung, durch die Auflösung der »France d’Outre-Mer« getroffen worden. In Indochina ist die französische Sprache weitgehend durch das Amerikanische ersetzt worden. Die Republik Algerien am Südrand des Mittelmeers, die seinerzeit als Bestandteil des Mutterlandes galt und in Départements aufgeteilt war, hat sich seit dem grausamen Unabhängigkeitskrieg der Jahre 1954 bis 1962 von der weit gediehenen Assimilation an die Metropole mit Vehemenz losgesagt. Die Präsenzvon fünf

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