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Die Angst des wei�en Mannes

Titel: Die Angst des wei�en Mannes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Scholl-Latour
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das Britische Empire. Gewaltige Territorien kontinentalen Ausmaßes – Kanada, Australien, Neuseeland – bleiben dauerhaft anglisiert, und die Sprache Shakespeares – potenziert durch die Omnipräsenz des nordamerikanischen Business-Jargons – ist nach Verdrängung des Französischenzur weltweiten »lingua franca« unserer Epoche geworden. In erstaunlichem Maße hat sich die britische Praxis der »indirect rule« bewährt, die den unterworfenen Vasallen das Gefühl der respektierten eigenen Identität vermittelte, sie in Wirklichkeit jedoch – das trifft zumal auf den indischen Subkontinent zu – in eine gesellschaftliche Ordnung eingliederte, die noch immer recht »viktorianisch« anmutet. Der britische »Raj« hat sich als vornehmste Kaste Indiens etabliert. Die grandiosen Militärparaden von Neu-Delhi und Islamabad scheinen auf das kriegerische Ballett des »Grand Tattoo« ausgerichtet zu sein. Wer jedoch als Augenzeuge die kämpferische Performance der indischen wie der pakistanischen Streitkräfte beobachten konnte, entdeckt Spuren jenes Drills, der durch die karikatureske Figur des Colonel Blimp verkörpert wurde.
    Inzwischen sind die indischen Wissenschaftler in Spitzenpositio nen der elektronischen Forschung mit spezieller Begabung für »software« aufgerückt. Das täuscht nicht darüber hinweg, daß die Infrastruktur dieses Kontinents – ob es sich um Straßen, Eisenbahn linien oder sanitäre Einrichtungen handelt – fast ausschließlich auf die Leistungen angewiesen ist, die die britische Verwaltung er brachte. Das moderne Indien mag sich mehr und mehr auf die Dy namik und den Unternehmungsgeist Amerikas ausrichten, aber das »behaviour« der britischen Oberschicht genießt weiterhin höchstes Ansehen, und man könnte gelegentlich von einer gesellschaftlichen Mimikry sprechen.
    Eine Voraussage, die im Jahr 1951 von dem renommierten Politologen Tibor Mende gemacht wurde, hat sich nicht bewahrheitet. Die Regierung von Neu-Delhi wollte damals von einem der kolossalen Verwaltungsgebäude aus der Zeit des Empire die britische Krone entfernen lassen, die über dessen Kuppel thronte. Es erwies sich, daß dieses Symbol fremder Macht den Schlußstein bildete und daß bei seiner Entfernung das gesamte Gewölbe in sich zusammengebrochen wäre. So sei es in absehbarer Zeit auch mit der Indischen Union bestellt, bemerkte Tibor Mende. Der einenden Kraft der Kolonialherrschaft beraubt, würde die disparate Konstruktion sehr baldauseinanderbrechen. Trotz der zunehmenden Aufsässigkeit von 150 Millionen Muselmanen, trotz des radikal-sozialistischen Aufstandes der Naxaliten und der Sezessionsbestrebungen diverser Fremdrassen, trotz des himmelschreienden Elends, das in dem Film »Slumdog Millionaire« so schonungslos anhand des jungen Muslims Jamal Malik gezeigt wird – ein Hindu hätte sich für diese Rolle nicht geeignet –, ruht das Regime von Delhi weiterhin auf solidem Fundament. Quousque tandem?
    *
    Wenden wir uns einer anderen europäischen Einflußnahme zu, die sich jenseits des Atlantik in erstaunlicher Vitalität erhalten hat, dem Nachlaß Spaniens in Übersee. Als ich im Jahr 1964 Charles de Gaulle auf seiner ausgedehnten Lateinamerika-Reise begleitete, hat sich der General verwundert, wie unterschiedlich die aus ibe rischem Erbe hervorgegangenen Staaten sich dort entwickelt hat ten. Da gibt es die südlichen Länder des Subkontinents, die fast ausschließlich von Weißen aus dem mediterranen Raum bevölkert sind. In Argentinien, Uruguay und Chile sind die Indios einer ähn lichen Ausrottung erlegen wie die Rothäute der Estados Unidos del Norte. Aber überall dort, wo das ethnische Urelement überlebte, entdecken selbst die Mestizen ihr von den Azteken, den Inkas und anderen präkolumbianischen Gruppierungen überliefertes Erbe. Es haben sich originelle Gesellschaftsformen entwickelt, die selbst bei den winzigen Ländern Mittelamerikas erstaunlich differenzie ren. Wo sonst hätte man wohl – wie zwischen El Salvador und Hon duras – einen »Fußballkrieg« geführt?
    Die eminente Rolle, die bei dieser Emanzipation der »Hispanics« vom »Joch« der Gringos die Volkshelden Fidel Castro und Che Guevara gespielt haben, kann gar nicht überschätzt werden, obwohl beide rein spanischen Geblüts und Söhne der lokalen Oberschicht waren. Die Revolutionäre der Tupamaro-Bewegung von Uruguay, die vor Terrorakten nicht zurückschreckten, beriefen sich auf einen indianischen Aufstandsführer aus Peru, der noch

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