Die Angst des wei�en Mannes
Senzala – Herrenhaus und Sklavenhütte , geschildert wird. Die Zuckerrohrernten hatten der Oberschicht Wohlstand und Luxus gebracht. Die Erschließung reicher Goldminen in Minas Gerais setzte eine abenteuerliche Jagd nach dem Edelmetall in Bewegung.
Die gemischtrassige brutale Expansion in die Tiefen des Landes, die nach Einverleibung des Mato Grosso auf das riesige Urwaldbek ken des Amazonas ausgriff, wurde erst am Fuß der Anden durch die spanische Kolonialpräsenz zum Stillstand gebracht. Zur Zeit meines Aufenthalts in Rio de Janeiro erzielte der Film »O Cangaceiro« einen enormen Publikumserfolg. Ich fügte mich der damaligen Vor schrift, daß man den Kinosaal nur als Krawattenträger betreten durfte, und erlebte auf der Leinwand die grausame, furchterregende Landnahme der »Bandeirantes«, deren bewaffnete Reitertrupps vor keiner Vergewaltigung und Drangsalierung der seßhaften Bevölke rung haltmachten und bereits den ethnischen Typus des heutigen Durchschnittsbrasilianers vorwegnahmen, nämlich ein Gemisch von afrikanischem, europäischem und indianischem Erbgut.
Es ist nicht meine Absicht, das brasilianische Vexierbild zu deuten. Zu erwähnen ist jedoch die ungeheure Bereicherung des Landes, die im neunzehnten Jahrhundert als Folge seines Kautschuk-Monopols im Amazonasbecken eintrat. Eine neue Schicht kapitalistischer Magnaten sammelte sich im Herzen der grünen Hölle in der Stadt Manaus. Noch ist das mächtige Operngebäude erhalten geblieben, auf dessen Bühne die größten Schauspieler Europas, vor allem auch der italienische Meistertenor Caruso, auftraten.
Bei diesem Rückblick fällt mir auf, daß die Wiederbelebung historischerVorgänge, die bislang der Literatur vorbehalten war, neuerdings durch deren Verfilmung ins Werk gesetzt wird. An einem regnerischen Tag in der gigantischen Metropole São Paulo, wo sich ein starkes japanisches Bevölkerungselement erhalten hat und angeblich jede Form von Kriminalität blüht, kam mir im erdrückenden Schatten wassertriefender Betonburgen die Untergangsstimmung von »Blade Runner« in den Sinn.
In Werner Herzogs »Fitzcarraldo« wurde eine faszinierend ro mantische Kino-Rekonstruktion dieses hemmungslosen Kautschuk-Booms realisiert. Bei einer kurzen Expedition in die von Reptilien, tödlichen Bakterien und unerträglichen Insektenschwär men wimmelnde Amphibienlandschaft, deren gigantische Vege tation den Himmel verdunkelt, erschien mir das frivole Casino-Treiben der Kautschukbarone von einst wie ein frevelhafter Spuk.
So habe ich auch den weltberühmten Karneval von Rio lediglich in der ergreifenden filmischen Romanze »Orfeu Negro« erleben können. Der geniale Regisseur Marcel Camus hat darin deutlich ge macht, daß diese hemmungslose »Love Parade«, wie man bei uns sagen würde, diese Zurschaustellung exotischer Schönheit, sexu eller Ausschweifung und scheinbarer Sorglosigkeit eine durchaus ernstzunehmende, fast tragische Kehrseite besitzt. Dem Unterpro letariat der Favelas wird in den Stunden der Ausgelassenheit Gele genheit geboten, sich wie mit einem Zauberstab in eine imaginäre, strahlende Traumwelt zu versetzen. Der Auftritt eines armen alten Schwarzen hat mich beeindruckt, der in einem Kostümverleih eine strahlende Krone auf sein Haupt setzte. »Du siehst ja aus wie ein König«, bemerkte ein Kunde neben ihm, und der Sklavenabkömm ling antwortete mit Überzeugung: »Ich bin ein König – sou un rei .« Wer die Ernsthaftigkeit und den Eifer beobachten konnte, mit de nen die diversen Samba-Schulen sich, miteinander rivalisierend, auf das schillernde, dröhnende Spektakel vorbereiten, mochte hinter der heiteren Anmut der Tänzerinnen gelegentlich das gequälte Antlitz der Eurydike entdecken.
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ImMärz des Jahres 2009, genau ein Jahr nach meiner Geburtstags feier am Strand von Ost-Timor, wo sich übrigens bereits in den Wirren der ersten Unabhängigkeitstage neben den Portugiesen auch die Brasilianer mit einer stattlichen diplomatischen Vertretung niederließen, habe ich im Copacabana Palace von Rio de Janeiro Quartier bezogen. Unterschiedlicher als an den beiden geographi schen Extremen konnte sich das koloniale Erbe Lusitaniens nicht entfalten. Schon bei der Anreise über Venezuela habe ich festge stellt, daß sich die rassische Vermischung in weiten Teilen Latein amerikas so konsequent weiterentwickelt hat, daß – aufgrund der Mendelschen Gesetze – die Kinder ein und derselben Familie völ lig konträre Rassenmerkmale aufweisen. Zwar
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