Die Angst des wei�en Mannes
scheiterten. Die Entdeckung reicher Goldvorkommen in der heutigen Provinz Minas Gerais löste einen hektischen Zustrom von Neu-Einwanderern aus, die in die Tiefen des Kontinents vordrangen.
Als die Armeen Napoleons Portugal besetzten, flüchtete die kö nigliche Familie von Lissabon nach Rio de Janeiro und etablierte sich dort, bis Pedro I. die Bande zum Mutterland löste und 1822 das unabhängige Kaiserreich Brasilien ausrief. Erst nach 67 Jahren wurde dieser verspäteten Monarchie durch einen Militärputsch ein Ende gesetzt. Unter der Losung »Ordem e Progresso – Ordnung und Fortschritt« wurde die Republik proklamiert, und im Zuge einer unerbittlichen und abenteuerlichen Ausweitung entstand Schritt für Schritt ein staatlicher Koloß, dessen Territorium sieb zehnmal größer als Frankreich und dessen Bevölkerung inzwischen auf rund 200 Millionen Einwohner angewachsen ist. Von einer so gigantischen Expansion hätte selbst der Barde Camões nicht zu träumen gewagt.
»La France se portugalise – Frankreich sinkt auf den Rang Portugals herab«, soll de Gaulle gesagt haben. Der General, der Frankreichs Größe wie ein Heiligenbild in sich trug, hatte von seinen Landsleuten als Individuen keine sonderlich hohe Meinung. »Die Franzosen sind Kälber«, spottete er. Nun befürchtete er, daß »la France« in eine ähnliche Resignation verfallen könnte wie Lusitanien, das unter dem Kleriko-Faschismus des Professors Salazar seine Schwermut, seine Trauer über die verlorene Größe im Fado-Gesang ausdrückte. Aber in diesem Fall hat der große Mann im Elysée-Palast sich getäuscht. Der Beitritt zur Europäischen Union öffnete dem von endlosen Kolonialkriegen ausgelaugten Land den Zugangzur Moderne und befreite die teilweise analphabetische Bevölkerung Portugals von einer Armut, die ihrer nicht würdig war.
In Wirklichkeit hätte Charles de Gaulle allen Grund gehabt, die Portugiesen zu beneiden. In Brasilien ist jenseits des Atlantik ein ins Monumentale verzerrtes Spiegelbild dieses bescheidenen Küsten streifens Europas entstanden. Dort formierte sich ein postkolonia ler Koloß, der an die Ambitionen der »Lusiaden« anknüpft und in nerhalb der multipolaren Welt unserer Tage den Anspruch auf Großmachtstatus erhebt. Unter der Abkürzung BRIC haben die Medien einen Sammelbegriff für jene »Schwellenländer« erfunden – Brasilien, Rußland, Indien, China –, die Europas Bedeutung in den Schatten stellen und mit den USA zusehends auf Augenhöhe kommunizieren.
Im Sommer 1953 hatte ich – von den Iguazu-Fällen kommend – einen Eindruck von jenen südbrasilianischen Provinzen zwischen Porto Alegre und Curitiba gewonnen, wo sich der Lebensstandard einer überwiegend weißen Bevölkerung von der üppigen Nachbar schaft der Städte Montevideo und Buenos Aires nur durch die por tugiesische Sprache unterschied. In Paraguay hatte ich vor meiner Weiter reise nach Brasilien der einzigartigen Gründung eines in dianischen Gottesstaates unter der Autorität des Jesuiten-Ordens gedacht, die im achtzehnten Jahrhundert stattfand. Die Sprache der Guarani-Indios ist zwar bis auf den heutigen Tag als offizielle Amts sprache erhalten geblieben. Die Selbstverwaltung der Eingeborenen in den sogenannten »Reducciones«, wo die Präsenz europäischer Kolonisten nicht geduldet wurde, dieses »heilige Experiment«, das dort »ad majorem Dei gloriam« und mit dem Ziel indianischer Emanzipation von der Societas Jesu betrieben wurde, nahm jedoch ein jähes Ende, als in Lissabon der Marquês de Pombal eine ra dikale Ausrichtung des morschen Königreichs auf die Vorstellun gen der Aufklärung vollzog. Brasilianische Truppen wurden ausge schickt, um dem »Staat« der Guarani ein Ende zu bereiten, die »Reducciones« zu verwüsten und die Jesuiten zu vertreiben.
Vor fünfzig Jahren erschien mir Brasilien als ein widersprüchliches, mit unseren politischen Vorstellungen kaum vereinbares Ge bilde.Der Regierungssitz befand sich noch in Rio de Janeiro, wo man zu jener Zeit auch bei Nacht ohne sonderliche Gefährdung das stets muntere Straßentreiben beobachten konnte. Die weiten Küstenebenen waren der feudalen Bewirtschaftung einer Oligarchie von Großgrundbesitzern ausgeliefert. Dort arbeiteten fast ausschließlich schwarze Hungerleider, deren Versklavung erst 1888 offiziell aufgehoben wurde. Die Zustände hatten sich 1953 kaum verändert seit der Kolonialepoche, die in der meisterhaften Sozialstudie von Gilberto Freyre, Casa-Grande &
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