Die Angst des wei�en Mannes
die bei den Karnevalsumzügen ihre lasziven Reize zur Schau stellen, sich aufhalten.
Politisch ist in Brasilien ein grundlegender Wandel eingetreten. Seit 2003 übt Luiz Inácio Lula da Silva in der neuen futuristischen Hauptstadt Brasília die Präsidentschaft aus. Dieser bärtige, wohl wollend blickende Mann aus dem Volk, der als historischer Führer der brasilianischen Linken gilt, betont seine totale Unabhängigkeit von den USA. Bei den Yankee-Gegnern des Subkontinents findet er bereitwillige Verbündete und Sympathisanten. Auffällig ist auch, wie wenige Menschen hier die englische Sprache beherrschen und wie die Exklusivität des Portugiesischen sich erhält.
Seit vor der atlantischen Küste reiche Erdölfelder geortet wur den, steht Brasilien im Begriff, zu einer der maßgeblichen Wirt schaftsmächte aufzusteigen. »Lula«, wie er allgemein heißt, läßt sich von niemandem dreinreden, tritt in diversen Regionalkon flikten als Schlichter auf und baut die brasilianischen Streitkräfte zum beherrschenden Militärfaktor des Subkontinents aus. Brasi lien, so verraten die Experten, wäre binnen kurzer Frist in der Lage, nuklear aufzurüsten und seine eigene Atombombe zu bauen.
Zum Abschied bin ich in nördlicher Richtung nach Salvador da Bahia geflogen. Unweit dieser expandierenden Hafenstadt war Ca bral,der erste Portugiese, an Land gegangen, und so schließt sich ein historischer Kreis mit jenem Entdecker, der als erster Lusitanier den Boden der Insel Timor betrat. In Bahia könnte man sich nach Afrika versetzt fühlen. Die Bevölkerung ist fast ausschließlich schwarz. Betreut wird sie auch hier von den Franziskanern, und das herrliche Hotel »Convento do Carmo«, ein ehemaliges Kloster, strömt rund um den tropischen Innengarten mit den Steinarkaden eine weihevolle Atmosphäre aus. Um so lebhafter, fast turbulent, geht es auf dem großen Zentralplatz zu, der von der Kirche São Francisco beherrscht wird. Das Innere des Gotteshauses ist durch und durch mit Gold verkleidet, leuchtet wie ein riesiger Tabernakel, strahlt ebenso aufwendig wie die legendären Kirchen von Ouro Preto.
Rundum herrscht negroide Fröhlichkeit. Die Frauen sind in knall bunte, karibisch anmutende Kleidung gehüllt. Den seltenen Weißen begegnet man mit lachender Unbefangenheit. Aus allen Ecken dröhnt Musik. Die Bevölkerung strömt Vitalität und Heiterkeit aus. Die Geschichte der Sklaverei ist scheinbar aus dem Gedächtnis ge löscht. Unter allen Ländern unserer Erde, die ich aufsuchte, er scheint mir Brasilien als das unerklärlichste. Hier sind wir nicht nur in der »Neuen Welt« angekommen, hier begegnen wir einer neuen Menschheit, und die Vermutung stellt sich ein, dieses könnte die Menschheit der Zukunft sein. Mit seiner vielfältigen Harmonie der Rassen nimmt Brasilien eine ethnische Vermengung vorweg, die für den ganzen Globus Gültigkeit gewinnen könnte. Noch ist die Ver schmelzung sehr unterschiedlich vorangeschritten, spart gewisse Regionen vollends aus. Niemand kann so recht erklären, wie dieses kunterbunte Sammelsurium funktioniert, wie trotz aller Diskrepan zen eine brasilianische Einheitlichkeit und ein wachsendes nationa les Selbstbewußtsein entstanden. Zu einem unbeschreiblichen Tau mel sollte sich der patriotische Überschwang steigern, als Rio de Janeiro die Ausrichtung der Olympischen Spiele 2016 zugesprochen bekam. Es stimmt nachdenklich, daß Barack Obama mit seinem Ein satz zugunsten Chicagos so ruhmlos scheiterte.
Ich will nichts verharmlosen und schönreden. Es kann einen sogar ein Schauer überkommen bei der Perspektive auf eine globale Entwicklung,an deren Ende das biologische Ende des »weißen Mannes« stünde. Es wird so viel über Klimawandel und ökologische Verseuchung gesprochen. Aber aufgrund der Kommunikationsmöglichkeiten, von denen unsere unmittelbaren Vorfahren nicht zu träumen wagten, aufgrund einer subkutanen kulturellen Anpassung und Osmose, deren Ausmaß wir noch nicht ermessen, aufgrund einer technischen und elektronischen Beschleunigung der menschlichen Geistesentwicklung – so kommt mir an diesem heiteren Tag in Salvador de Bahia in den Sinn – wäre auch eine Beschleunigung der Evolution, ja das jähe Auftreten von Mutationen nicht auszuschließen, die das Bild des »homo sapiens« erheblich verändern könnten. Der typologische Unterschied zwischen den Generationen ist bereits klar erkennbar. Dazu kommt das Phänomen einer durch einseitige Ernährung bewirkten Verfettung, eine
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