Die Angst des wei�en Mannes
jede Vorwarnung ein gewaltiger Brecher seitlich gegen die Bordwand krachte.
In hohem Bogen wurde ich durch die Kajüte geschleudert, prallte auf einen metallischen Kofferrand und blieb mit entsetzlichen Schmerzen und der Befürchtung, eine Querschnittslähmung erlit ten zu haben, zwei Stunden lang liegen. Später stellte sich heraus, daß ich mir lediglich eine Rippe auf dem Rücken gebrochen hatte, eine Verletzung, die problemlos und schnell verheilte. Aber mein Rücken von der Schulter bis zum Gesäß schillerte in allen Schattie rungen – blau, rot, gelb und grün –, eine farbige Tätowierung, um die mich jeder Maori-Krieger beneidet hätte.
Am Ende gelang es mir, den Schiffsarzt zu wecken, der mit Mor phiumspritzen die Pein linderte und mich wieder einsatzfähig machte. Um mich abzulenken, überreichte mir der Samariter einen kleinen Stapel Zeitschriften. Da wir von den Ereignissen der üb rigen Welt seit zwei Wochen völlig abgeschnitten waren, griff ich begierig nach der Lektüre, mußte jedoch zu meiner Enttäuschung feststellen, daß deren Erscheinungsdatum um mehrere Monate, ja Jahre zurücklag. Beim Blättern in der archaischen Sammlung ent deckte ich in einer Ausgabe von Newsweek aus dem Jahr 2003 eine Abbildung, die mit merkwürdigen Assoziationen verbunden war.
Auf dem Titelblatt prangte eine Darstellung von Stärke und Triumph, die – bei Kenntnis des weiteren Verlaufs der Ereignisse – den Stempel des Niedergangs trug. Präsident George W. Bush war abgebildet, als er auf dem Deck des Flugzeugträgers »Abraham Lin coln« zueiner jubelnden Schiffsbesatzung sprach. Das Kriegsschiff kreuzte vor der kalifornischen Küste, und auf einem riesigen Transparent, das über diese hollywoodwürdige Inszenierung gespannt war, stand zu lesen: »Mission accomplished«.
Der Commander-in-Chief verkündete, allen realen Erkenntnis sen zum Trotz, Amerika habe den Feldzug »Iraqi Freedom« erfolg reich abgeschlossen. Eigentlich hätte von diesem Propaganda auftritt, von der stolzen Cäsarenmaske des Präsidenten und den hoffnungsvollen Blicken seiner Matrosen eine zuversichtliche, ja eu phorische Stimmung ausgehen müssen. Doch ich reagierte ganz an ders, und das lag nicht nur an meiner Verärgerung darüber, daß hier wieder einmal schamlos gelogen und eine unverantwortliche Form massiver Desinformation betrieben wurde.
War es ein Wachtraum, der auf die Wirkung des Morphiums zu rückzuführen war? Dieser Imperator der Neuen Welt, der das trüge rische Spektakel so selbstherrlich genoß, erschien mir plötzlich unter der tragischen Maske des Kapitän Ahab, und in den weit aufgerisse nen Augen der begeisterten Matrosen des Flugzeugträgers spiegelte sich das Entsetzen der Harpunierer der »Pequod«, als sie das Mon strum Moby Dick aus den Fluten des Pazifik auftauchen sahen.
Es ist nicht das erste Mal, daß ich mich bei der politischen Bewer tung aktueller Vorgänge in USA der Parallele zwischen George W. Bush und dem Kapitän Ahab bediene. Gewiß, im stets zuversicht lichen, energischen Ausdruck des amerikanischen Staatschefs war nicht die geringste Ähnlichkeit zu entdecken mit der finsteren Ver bissenheit, die den Walfischjäger Ahab bei seiner mythischen Jagd quälte. Aber diese zutiefst unterschiedlichen Gestalten bildeten ge wissermaßen die Kehrseite der gleichen Medaille.
Beide fühlten sich in ihrer Eigenschaft als »born again« von Gott berufen, den Kräften des Bösen zu trotzen. Sie handelten im Auftrag des Allerhöchsten, um jene satanischen Kräfte auszurotten, die sich für den einen in der Untergangsvision des Wals Moby Dick, für den anderen in der Horrorgestalt des Terroristen Osama bin Laden offenbarten. In dieser apokalyptischen Konfrontation gab es kein Nachlassen, kein Rasten, keine Gnade. Der teuflische Wal verkör perteall jene Kräfte der Verdammnis, gegen die schon die Propheten Israels ihren Bannfluch geschleudert hatten, während Osama bin Laden und sein Gespenstergefolge von El Qaida den Kern einer weltweiten Verschwörung bildeten, die die Vernichtung all jener christlichen und demokratischen Werte betrieben, denen »America the beautiful« seine tugendhafte Einzigartigkeit verdankte.
Der erloschene Leuchttur m
Wenn ich immer wieder auf Erinnerungen des vergangenen Jahr hunderts zurückgreife, so geht es nicht nur um die Aufzählung per sönlicher Anekdoten oder die flüchtige Schilderung bizarrer Exo tik. Die Beschleunigung der geschichtlichen Abläufe, die ein Charakteristikum
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