Die Angst des wei�en Mannes
Zodiac-Schlauchbooten als einsame Entdecker in eine mir bislang völlig fremde Umgebung vorzustoßen, an der gemessen der an seinen Rändern schmelzende Eisblock Grönlands recht menschenfreundlich erscheint.
Die Antarktis habe ich nicht als den sechsten Kontinent unseres Erdballs wahrgenommen, sondern fühlte mich auf einen anderen Planeten versetzt. Die unerbittlichen Gesetze biologischer Auslese offenbarten sich dort mit besonderer Grausamkeit. Mächtige See-Elefanten, die sich träge am unteren Geröll wälzten, tauchten wie Ungeheuer eines Horrorfilms aus dem Dunst auf.
Die Heerschar der Pinguine, die dem Menschen ohne Scheu begegnen, schien bei aller Drolligkeit ihres Watschelgangs völlig wehrlos der Gier großer schwarzer Raubvögel ausgeliefert zu sein. Diese hielten Ausschau nach jenen schwächlichen Jungtieren, die ihren braunen Flaum nicht rechtzeitig abstreifen konnten, um mit glatter Robbenhaut in das eisige Wasser abzugleiten und dort ihre Nahrungssuche aufzunehmen. Im Zustand der Erschöpfung wur den sie von den geflügelten Beutejägern regelrecht zerhackt. Ihre kräftigeren, gesunden Artgenossen, die dem Ozean zustrebten, ver schwendeten keinen Blick auf ihre todgeweihten Artgenossen, von denen nach kurzem Gemetzel nur ein paar Fetzen übrigblieben und blutige Streifen, die sich dunkelrot durch die weißen Eisbrok ken zogen.
Unser besonderes Interesse galt den Seeleoparden. Diese elegant gestreckten Jäger, die ihren Namen dem Fleckenmuster ihres Fells verdanken, gehören einer extrem aggressiven Robbengattung an. Sie kreuzten unterhalb der Eiskante, von der die Pinguine sich ins Meerplumpsen ließen. Ihrem Namensvetter der afrikanischen Savanne durchaus vergleichbar, zerfleischten sie ihre Beute im Nu. Eines dieser geschmeidigen Raubtiere – es mochte vier Meter lang sein – versuchte sogar, sich in der roten Schutzverschalung unseres Zodiac festzubeißen.
Bei unseren zahlreichen Landausflügen wurden wir von sonnigem Wetter begünstigt. Nur einmal spürten wir uns den fürchterlichen Naturgewalten dieses Kontinents ausgeliefert. In der »Deception Bay«, die ihren Namen zu Recht trägt, hatten wir kaum auf dem schwarzen Lavaboden eines jungen Vulkanausbruchs Fuß gefaßt, da umhüllten uns plötzlich orkanähnliche Schneestürme, raubten uns jede Sicht, verwischten jede Spur, so daß wir uns wie Blinde an den Schultern der erfahrenen russischen Gefährten fortbewegten. Im Brausen der blendendweißen Schneemasse kam uns vorübergehend die Wahrnehmung abhanden, wo oben und wo unten war.
Zwischen gigantischen Eisschollen, die sich oft zu Gebirgen türm ten, wurden wir von Buckelwalen begleitet, die sich – durchaus wohlwollend – bis auf einen knappen Abstand näherten. Sie wären durchaus befähigt gewesen, mit einem heftigen Schlag ihrer gewal tigen Steuerflosse unser kleines Boot zu zertrümmern. Die gutmü tigen Kolosse des Ozeans, denen nur der Mensch mit angeborenem Killerinstinkt nach dem Leben trachtet, hätten mich eigentlich mit bösen Ahnungen erfüllen und auf die finstere Sage von Moby Dick verweisen müssen. Aber es gehörte wohl eine neurotische Geistes verirrung dazu, in diesen sich spielend tummelnden Giganten die Verkörperung des Bösen und teuflischer Verdammnis zu entdecken.
Der russische Kapitän Oleg, dem ich mich auf der Kommandobrücke häufig beigesellte, ein kraftstrotzender Seemann aus Murmansk, der der schweren See mit slawischer Gelassenheit begegnete, ließ sich noch weniger mit jenem Kapitän Ahab vergleichen, den Melville als dämonische Spukfigur gezeichnet hatte. Obwohl wir von den Wogen immer heftiger gebeutelt wurden, herrschte eine fröhliche, fast ausgelassene Stimmung an Bord. Die gute Laune der fünf jungen Russinnen, die der Mannschaft angehörten, war durch keinUnwetter zu trüben. So feierten wir meinen 83. Geburtstag mit Musik und Tanz, mit viel Wodka und einer riesigen Torte.
In der späten Nacht glättete sich der sonst so aufgebrachte Austral-Ozean. Die trügerische Stille wurde mir zum Verhängnis. Um der Seekrankheit und ihrer unerträglichen Übelkeit zu entgehen, unter der der wackere Charles Darwin fünf Jahre lang gelitten hatte, hat ten wir wirksame Vorsorge getroffen und ein unscheinbares Pflaster hinter das Ohr geklebt. Dieses Zaubermittel trocknete jedoch die Kehle aus und erregte starken Durst. Der vorübergehenden Flaute vertrauend, tastete ich mich zu dem Wandschrank vor, wo sich zwei Plastikflaschen mit Wasser befanden, als ohne
Weitere Kostenlose Bücher