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Die Angst des wei�en Mannes

Titel: Die Angst des wei�en Mannes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Scholl-Latour
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Systems, dem unlängst noch die Bewunderung und die Hochachtung der Welt galten.
    Die Entrüstung der Europäer hielt sich in Grenzen, und die Re gierungschefs der verbündeten Nationen verdrängten die uner träglichen Visionen aus Gründen moralischer Bequemlichkeit aus ihrer akuten Wahrnehmung. Ganz anders, geradezu explosiv hin gegen wirkten sich die Enthüllungen bei jenen Völkern der soge nannten Dritten Welt aus, die sich von Amerika ein energisches Einschreiten gegen die blutigen Exzesse der eigenen Willkür-Re gime und Tyrannen erhofft hatten.
EinFreiheitslied auf Feuerlan d
    Vor der Ankunft der »Gregory Mekejew« in Ushuaia war der Schiffsarzt noch einmal zu mir in die Kajüte gekommen, um mir eine Morphiumspritze zu verpassen. Wie sich im Gespräch heraus stellte, war der ältere, bescheidene und etwas traurig wirkende Mann deutsch-chilenischer Abstammung und hatte als Anhänger Salvador Allendes den Hafen Valparaiso, wo er arbeitete, seinerzeit fluchtartig verlassen. Er war viel in der Welt herumgekommen und auf die »Gringos«, die bei der Machtergreifung des General Pino chet eine maßgebliche Rolle gespielt hatten, nicht gut zu sprechen. Doch er erging sich nicht in zügelloser Polemik. Er wußte aus trü ber Erfahrung, daß die Vereinigten Staaten zur Wahrung ihrer vitalen Interessen durchaus in der Lage waren, von ihren hehren Idealen Abstand zu nehmen.
    Lateinamerika hatte in dieser Hinsicht von Guatemala bis San tiago bittere Erfahrungen gesammelt. Die Bush-Administration hatte es nicht gestört, daß die Mehrzahl ihrer Vasallen und Klien ten Wahlen oder Volksbefragungen schamlos manipulierte, und notfalls hatte sie sogar tyrannischen Diktatoren, brutalen Militär cliquen oder korrupten Dynasten den Steigbügel gehalten.
    »Sie werden denken, ich sei ein marxistischer Ideologe geblie ben«, bemerkte der Arzt mit einem entschuldigenden Lächeln, aber ich hatte ja selber oft genug festgestellt, daß die Heilsbotschaft von Demokratie und Marktwirtschaft, auf die die Europäer auf keinen Fall verzichten sollten, sich für andere Kulturkreise als untauglich, ja als kontraproduktiv erwiesen hat. Selbst in Ländern, die formell am Ritual des Parlamentarismus festhielten – gelegentlich hatten sie sogar die Perücken von Westminster beibehalten –, stellte sich eine unaufhaltsame Abkehr von wesensfremden Regierungsformen ein, die ihnen die weiße Kolonisation einst oktroyierte und dauer haft zu vererben glaubte.
    Die großen, neuen Mächte – in Wirklichkeit sind es ja die alten Mächte –, die sich nach einem halben Jahrtausend christlich-abend ländischerBevormundung wieder zu Wort und zur Macht melden, sind längst dazu übergegangen, nach eigenen gesellschaftlichen Strukturen Ausschau zu halten, ob sie nun die Suche nach dem islamischen Gottesstaat aufnehmen oder die konfuzianische Lehre von der Harmonie zwischen Himmel und Erde neu beleben. Allzuoft fällt man in die Tradition von Autokratie und Oligarchie zurück, die nur in seltenen Fällen als aufgeklärt oder wohlwollend bezeichnet werden kann.
    Im Februar 2007 befand sich der finanzielle Zusammenbruch, der Absturz in die Rezession, die zwei Jahre später über die globalisierte »family of nations« wie eine Naturkatastrophe, wie ein ökonomi scher Tsunami hereinbrechen würde, noch außerhalb der Vorstel lungswelt der angeblich unfehlbaren Analysten und Auguren. Da bei hatte sich in Ostasien am Beispiel der regionalen »Tigerstaaten« längst erwiesen, daß das neoliberale Evangelium, wonach die demo kratische Staatsform unabdingbare Voraussetzung für technologi schen Fortschritt und wachsenden Wohlstand des Volkes sei, jeden Realitätssinns entbehrte. Vor allem setzte sich dort mit durchschla gendem Erfolg eine originelle Praxis des Staatskapitalismus durch, die unter der Ägide von kommunistischen Einheitsparteien in China und in Vietnam reüssierte.
    Das desolate Abgleiten der »jungen« afrikanischen Nationen in Chaos und Stammesfehden führte andererseits vor Augen, wie de struktiv sich die Übertragung des westlichen Parteiensystems auf den angestammten Tribalismus des Schwarzen Kontinents auswirkte. Die europäischen Politiker und Publizisten wiederum hatten sich durch die diversen militärischen Fehlschläge der USA und die dort zuneh mende Verrohung der Sitten in ihrer Amerikagläubigkeit kaum beir ren lassen. Sie würden an diesem Vorbild der Freiheit erst irre wer den, wenn in Wallstreet der Götzentempel des Goldenen Kalbes

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