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Die Angst des wei�en Mannes

Titel: Die Angst des wei�en Mannes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Scholl-Latour
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mir plötzlich ein, daß – durch einen puren Zufall der unterschiedlichen Kalender – der Kreuzestod Christi in diesem Jahr an dem gleichen Tag betrauert wird, an dem die islami sche Glaubensgemeinschaft die Geburt ihres Propheten Moham med feiert. Ein eigenartiges Zusammentreffen, auch wenn es kei nerlei Absicht entspricht. Nachdenklich hat mich diese Koinzidenz dennoch gestimmt. Hier wird tragisch daran erinnert, daß die Er oberung der Welt durch den weißen Mann, die vor genau einem halben Jahrtausend die Ozeane überwand und zu ihrem Triumph zug ausholte, parallel zur Ausbreitung des Christentums stattfand, daß Kolonisierung und Missionierung beinahe zwangsläufig Hand in Hand gingen.
    Wie unterschiedlich dieses »heilige Experiment« verlief, das einer tiefen und frommen Überzeugung entsprang, gleichzeitig jedoch mit extrem grausamen, inquisitorischen Methoden durch geführt wurde, läßt sich an der Gegensätzlichkeit der katholischen und der protestantischen Expansion darlegen. Die Mönche des hei ligen Franziskus und des heiligen Dominikus, im Verbund und oft rivalisierend mit der elitären Kerntruppe des Papstes, mit den Je suiten des Ignatius von Loyola, haben die halbe Welt der religiösen Autorität Roms unterstellt, von Lateinamerika bis zu den Philip pinen, von Südindien bis zum Kongobecken Zentralafrikas. Die Patres der Societas Jesu, die aufgrund ihres unermüdlichen Studi ums am Hof von Peking den Rang hoher Mandarine bekleideten, hatten sich zeitweilig in der Hoffnung gewiegt, durch die Taufe des Drachensohns und seines Hofes das gewaltige Reich der Mitte für die »alleinseligmachende Kirche« zu gewinnen.
    Die protestantischen Konfessionen haben sich in ihrer Vielfalt schwerer getan mit der kulturellen und ethnischen Verschmelzung, die in den meisten katholischen Diözesen praktiziert wurde und oft zu erstaunlichen Assimilationsergebnissen führte. Wenn die Pro testantensich in dieser exotischen Umgebung durchsetzten, mußten sie – zumal zwischen Kapstadt und Pretoria – das Handicap der calvinistischen Lehre überwinden. So übertrugen die dort lebenden Buren ihre Vorstellung von der Prädestination auf ihre rassischen Vorurteile und die Differenz zwischen Weiß und Schwarz. Die prüde Nüchternheit der Reformierten, ihr Verzicht auf heiligen Kult und liturgisches Decorum, an dem lediglich die Anglikaner festhielten, förderte das Entstehen von bizarren, oft extravaganten Formen des Synkretismus mit den im Untergrund schlummernden Naturreligionen. Auf ganz andere Weise wiederum wurde der ganze Norden Asiens – vom Ural bis zum Pazifik – von den bärtigen Popen der prawoslawischen Kirche Rußlands, der byzantinischen Glaubensform des Christentums, einverleibt.
    In jenen Kulturkreisen, die sich gegenüber allen Konversionsbe mühungen der christlichen Mächte resistent oder immun erwiesen – in der weltumspannenden Umma des Islam, im starren Kasten gefüge des Hinduismus, in der kontemplativen Absonderung des Buddhismus – erzielte zumindest das aufrührerische Gedankengut der Aufklärung verspätete Erfolge, nachdem die Klerisei in den Ruf des Obskurantismus und der Fortschrittsfeindlichkeit geraten war.
    Noch heute zehrt die vielgerühmte »Demokratie« Indiens von einer importierten Form des »Enlightenments« und dem Gedan kengut der »Fabian Society«. Dieser Trend wurde in der Person des ersten indischen Regierungschefs Jawaharlal Nehru – wohlweislich ein Brahmane der vornehmsten Kaste – überzeugend verkörpert. Daß die Aufklärung, »les lumières«, wie sie in ihrem Ursprungsland Frankreich heißt, zwar eine leidenschaftliche Verwerfung christli cher Dogmatik vollzog, in Wirklichkeit jedoch auf dem Urgrund der Lehre des Nazareners gedieh, sollten erst spätere Generationen wahrnehmen.
    Schon in früheren Veröffentlichungen habe ich die Aussage des französischen Schriftstellers André Malraux zitiert, der selbst Agnostiker und alles andere als ein klerikaler Frömmler war: »Das XXI. Jahrhundert wird religiös sein oder es wird nicht sein – le vingt-et-unième siècle sera religieux ou ne sera pas.« Aus dieser Prognoseließe sich für Europa ein düsteres Schicksal ableiten. In dem Maße nämlich, wie andere Kontinente zu ihren Mythen und Riten zurückfinden, verzichtet das Abendland auf die eigenen Glaubensgewißheiten, löst sich von der ererbten Religiosität.
    Auf das Modewort »Leitkultur« sollte man in diesem Zusammen hang lieber verzichten. Jedenfalls steht

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