Die Angst des wei�en Mannes
der westliche Hedonismus der eifernden, der kämpferischen Wiedergeburt oder Erneuerung anderer Bekenntnisse, vor allem des unmittelbar benachbarten Is lam, rat- und hilflos gegenüber. »Die Menschenrechte sind kein Religionsersatz«, heißt es in einer Broschüre des französischen Heeres. Wer wäre schon bereit, für die Oktroyierung des politi schen Pluralismus, für die erzwungene Weitergabe unserer par lamentarischen Bräuche das eigene Leben zu opfern, zumal die be troffenen fremden Völkerschaften nicht das geringste Verlangen nach einer solchen Übernahme bekunden?
Die verheißungsvolle Epoche, als Kemal Pascha, der unter dem Namen Atatürk die moderne Türkei mit Brachialgewalt auf den Trümmern des Osmanischen Reiches errichtete, das Edikt erließ: »Es gibt nur eine Zivilisation, und das ist die europäische«, liegt we niger als ein Jahrhundert zurück. Heute macht die radikale Ausrich tung auf das Vorbild des Abendlandes keinen Sinn mehr. Das läßt sich an der jüngsten Entwicklung der postkemalistischen Türkei ab lesen, die Schritt für Schritt zur islamischen Tradition und Gesit tung, ja zu heimlichen Kalifatsträumen zurückfindet.
Warum eignet sich die indonesische Insel Java so trefflich für eine Deutung religiöser Gegensätze und religiöser Analogien? Von den 220 Millionen Einwohnern der Republik Indonesien leben 130 Millionen auf Java. Hier überlagern sich sukzessive Schichten kul tureller Vielfalt und historisch differenzierter Doktrinen. Die Ver worrenheit ist groß, und die Analysen der Beobachter stimmen sel ten überein. Nicht nur Java, ganz Indonesien taumelt seit dem Kampf um die Unabhängigkeit von Holland, der 1948 erfolgreich abgeschlossen wurde, in einen seltsamen Kontrast:
Auf der einen Seite verweisen wohlwollende Exegeten auf die konstitutionell verankerte Duldsamkeit der »Pancasila«, die die koranischeReligion in diesem Land vor den fanatischen Exzessen bewahre, die hier und dort im Dar-ul-Islam aufflackern. Auf der anderen Seite wird Insulinde periodisch durch Ausbrüche mörderischer Wut heimgesucht, durch kollektive Raserei, die sich bei Gelegenheit als »Jihad« gebärdet und auch im internationalen Wortgebrauch mit der malaiischen Vokabel »Amok« benannt wird. Jedes Mal, wenn ich mich publizistisch mit Indonesien befaßte, wurde ich der Schwierigkeit gewahr, so viele Widersprüche zu gliedern und zu durchleuchten.
Der Geist von Bandung
Ein kurzer Rückblick auf meinen ersten Aufenthalt auf Java im Sommer 1954: Von der langen holländischen Präsenz waren damals nur noch spärliche Spuren zu entdecken. Der ehemaligen Koloni almetropole Batavia, die nunmehr Jakarta hieß, hatte sich chao tische Unruhe bemächtigt. Die Niederländer hatten zur Entsump fung dieses auf Meeresniveau gelegenen Hafens ein System von Kanälen, von »Graachten« gezogen, aus deren fauligem Wasser entsetzlicher Gestank und dichte Moskitoschwärme aufstiegen. An eine erträgliche Unterkunft war nicht zu denken. Das einzige Ho tel »Batavia« war mit Gästen überbelegt.
Als beherrschendes Wahrzeichen der neuen Zeit hatte Präsident Ahmed Sukarno eine mächtige Säule errichten lassen, von deren Gipfel eine goldene Flamme wie das Feuer der Unabhängigkeit leuchtete. »Merdeka«, so nannte man die gewonnene Souveränität in der neu eingeführten Einheitssprache Bahasa Indonesia. Ich nächtigte schließlich in einem brütend heißen Schuppen, dessen Enge ich mit einem mürrischen, fettleibigen Inder teilte. Meinem damaligen Reisegefährten, dem Photographen Öttinger aus Saarbrücken, war es bei der Ankunft weit schlimmer ergangen. Er verfügte über das seltsame Reisedokument, das zur Zeit des autono menSaar-Staates Johannes Hoffmanns die französische Republik mit dem dicken Aufdruck »Sarrois« ausstellte. Den indonesischen Behörden erschien der Paß so verdächtig, daß Öttinger drei Tage in Hausarrest verbrachte.
Daß diese weitverstreute, disparate Inselwelt in einem einzigen Staatsgebilde zusammengehalten wurde, kam einem Wunder gleich. Die Molukken-Insel Ambon – mehrheitlich von Christen bewohnt – hatte heftigen Widerstand gegen die Einverleibung in das Reich »Bung« Karnos geleistet, des »Bruder Karno«, wie der Staatschef bei seinen Anhängern hieß. Da die Niederländer unter den Christen von Ambon einst den Kern ihrer Kolonialtruppe rekrutiert hatten, zogen sich die Kämpfe lange hin und endeten mit einer massiven Auswanderung dieser Minderheit in die neblige, triste
Weitere Kostenlose Bücher