Die Angst im Nacken - Spindler, E: Angst im Nacken
der Entführung änderte sich mein Leben“, fuhr sie leise fort. „Ich veränderte mich. Ich fühlte mich nicht mehr sicher. Ich traute niemandem mehr. Ich hatte ständig Angst.“
Ihre Freunde schwiegen betreten. Nach einigen Sekunden räusperte Dalton sich. „Soll das heißen, er hat den kleinen Jungen vor deinen Augen umgebracht?“
Tränen kamen ihr, als eine Flut entsetzlicher Bilder vor ihrem geistigen Auge vorüberzog: der kämpfende Timmy, während Kurt ihm das Kissen auf den Kopf presste. Schlagende Arme und Beine, ein zuckender Körper, dann Totenstille.
Am liebsten hätte sie laut geschrien. Die Erinnerung war immer noch unerträglich lebendig.
Schließlich fand sie ihre Stimme wieder. „Danach ging er auf mich los.“
„Dein Finger.“
Sie nickte, und Bill schloss seine Hand um ihre. „Kein Wunder, dass du Angst hast, Anna. Wie schrecklich.“
„Ihr zwei habt nicht als Einzige diesen Hinweis auf die Sendung erhalten.“ Sie atmete tief durch. „Fast alle Leute, die mit mir zu tun haben, bekamen so eine Botschaft. Meine Eltern, Freunde, mein Agent und meine Lektorin.“ Sie erzählte, wie sie beim Heimkommen den Umschlag mit der Videokassette gefunden hatte. Das Video mit dem Interview ihrer Mutter, das auch in der Sendung gelaufen war. „Das Video endete mit der Botschaft, ich solle mir das Programm heute ansehen.“
„Du glaubst doch nicht, dass deine Mutter …“
„Nein.“ Anna schüttelte den Kopf. Dennoch verletzte es sie, welchen Anteil ihre Mutter an der Aufdeckung ihrer Identität hatte. Sie fühlte sich verraten. Weder ihre Mutter noch ihr Vater verstanden so ganz, warum sie große Angst davor hatte, ihre Identität preiszugeben.
„Vor etwa einem Jahr nahm ein unabhängiger Videofilmer Kontakt zu meiner Mutter auf. Er stellte angeblich eine Serie über die Leindwandgöttinnen der Fünfziger zusammen und wollte auch sie interviewen. Sie gab das Interview und hörte bis heute nichts mehr von ihm.“
„Das erklärt noch nicht, warum sie im Interview so viel über dich verraten hat“, erwiderte Dalton ärgerlich. „Also wirklich.“
Anna sah kurz auf ihre Hände und hob den Blick wieder. „Es ist passiert. Sie ist nicht meine Feindin, sie will mir nicht …“
Schaden! Irgendwer will mir schaden!
Einige Sekunden schwiegen alle, dann umarmte Dalton sie. „Arme, süße Anna. Man hat dich gezwungen, Farbe zu bekennen.“
Bill fragte stirnrunzelnd: „Erinnert sich deine Mutter zufälligerweise noch an den Namen des Videofilmers?“
„Nein, aber sie hat seine Visitenkarte. Sie sucht danach.“
„Ich sag dir was“, erwiderte Bill. „Ich habe einige Freunde bei den Fernsehproduktionen. Ich werde sie anrufen und fragen, ob jemand herausfinden kann, von wem E! den Beitrag gekauft hat. Mit etwas Glück lässt sich zurückverfolgen, woher er stammt.“
„Danke.“ Sie legte ihre Hand auf seine. „Das wäre sehr hilfreich.“
„Hast du eine Ahnung, wer hinter alledem stecken könnte?“
„Nein, ich …“ Anna wand sich um eine Antwort herum, weil ihr Verdacht so lächerlich klang. „Wie ihr wisst, wurde Kurt nie gefasst, aber das FBI behauptet, er stelle keine Bedrohung dar.“
„Du glaubst, dass dieser Kurt dahinter steckt?“
„Ich weiß, es klingt verrückt, aber … es könnte sein.“
Dalton zog sie fester an sich und warf Bill einen warnenden Blick zu. „Ich halte das für höchst unwahrscheinlich.“
„Allerdings“, stimmte Bill zu. „Warum sollte Kurt dich gerade jetzt verfolgen? Es ist so viel Zeit vergangen.“
„Um eine alte Rechnung zu begleichen“, erwiderte sie leise. „Um sich zu rächen, weil ich seine Pläne vereitelt habe.“
Wieder schwiegen ihre Freunde. Diesmal sprach Bill als Erster. „Denken wir mal genau nach, Anna. Ich verstehe, warum du dich von diesem Mann bedroht fühlst. Aber warum sollte er dich zwingen, deine Identität preiszugeben?“
„Genau“, pflichtete Dalton bei. „Wenn Kurt auf Rache aus ist, warum rächt er sich nicht einfach? Entführt dich und bringt dich um?“
„Danke, Dalton.“ Sie zwang sich zu einem Lächeln. „Erinnere mich, dass ich Einbruchssicherungen installieren lasse.“
Bill zog die Stirn kraus. „Dass Kurt dich verfolgt, ergibt einfach keinen Sinn, Anna. Sieh dir die Fakten an. Dreiundzwanzig Jahre sind vergangen. Dieser Kurt hat sich mit Sicherheit auf andere Verbrechen verlegt. Vielleicht sitzt er sogar im Gefängnis. Vielleicht ist er tot.“
Sie massierte ihre deformierte Hand.
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