Die Angst im Nacken - Spindler, E: Angst im Nacken
entsetzten Blick zu. „Ist etwas vorgefallen, von dem ich nichts weiß?“
Fran wollte antworten, doch ihr Mann kam ihr zuvor. „Sie sind doch hoffentlich nicht überrascht. Das hat sie schon früher gemacht.“
„Aber sie ist seither viel erwachsener geworden. Sie hat gründlich über sich und ihr Leben nachgedacht. Sie weiß, dass Weglaufen für sie keine Lösung ist.“
Anna sah von Fran zu ihrem Mann. „Hat Fran Ihnen gesagt, dass Jaye auf dem Heimweg von der Schule von einem Mann verfolgt wurde?“
Er verdrehte die Augen. „Das ist doch Blödsinn. Wenn sie wirklich verfolgt worden wäre, hätte sie uns davon erzählt.“
„Ich habe zuerst auch nicht glauben wollen, dass sie weggelaufen ist“, sagte Fran leise. „Aber nachdem Sie von ihren Freundinnen erfahren haben, dass sie gar nicht in der Schule war …“
Bob Clausen schnaubte verächtlich. „Die Katze lässt das Mausen nicht. Wer einmal ein egoistischer kleiner Nichtsnutz ist, bleibt es.“
Zornesröte überzog Annas Wangen. „Jaye ist weder egoistisch noch ein Nichtsnutz!“
„Bob hat das nicht so gemeint“, beschwichtigte Fran. „Aber Sie haben nicht mit Jaye gelebt. Sie war sehr starrköpfig, manchmal störrisch. Wenn sie sich zu etwas entschlossen hat, tut sie es, ungeachtet der Konsequenzen.“
Anna hielt sich nur mühsam im Zaum. „Bei der Kindheit, die Jaye hatte, musste sie einen starken Willen entwickeln, andernfalls hätte sie nicht überlebt!“
Die Clausens warfen sich Blicke zu. Bob wollte etwas erwidern, unterließ es aber. Schweigend wandte er sich ab und kehrte in sein Arbeitszimmer und zu seinem Fernsehprogramm zurück.
Fran sah ihm nach und wandte sich an Anna. „Wir rufen Sie an, wenn sie auftaucht … oder wenn wir etwas hören.“
Mit anderen Worten, raus. Sie würde gehen, nachdem sie ein wenig weiter gebohrt hatte. Etwas an dieser Sache erschien ihr merkwürdig und ergab keinen Sinn.
„Hätten Sie etwas dagegen, wenn ich einen Blick in Jayes Zimmer werfe?“
„In ihr Zimmer?“ Fran sah zum Fernsehraum. Anna war nicht sicher, ob sie die moralische Unterstützung ihres Mannes suchte oder nur prüfte, ob er mithörte. „Warum?“
„Vielleicht … möchte ich mich selbst überzeugen, dass sie nicht da ist.“ Sie senkte die Stimme. „Bitte, Fran, es würde mir wirklich viel bedeuten.“
Fran zögerte einen Moment und gab nach. „Also gut. Ich nehme an, das schadet niemand.“
Fran ging voran und wartete im Flur, während Anna sich in Jayes Zimmer umsah. Wie bei vielen Teenagern sah es hier aus wie nach einem Wirbelsturm.
Anna ging mitten ins Zimmer und blieb stehen. Es roch nach Jaye, nach dem leichten blumigen Parfum, das sie bevorzugte. Über dem Sessel in der Ecke lag der orangefarbene Pullover, den sie bei ihrem letzten Treffen getragen hatte. Auf dem Nachttisch lagen drei leere Coladosen und ein Stapel CDs. Anna sah den Stapel durch und erkannte einige von Jayes Lieblingssongs. Warum hätte sie die hier lassen sollen, wenn sie wirklich weggelaufen wäre. Sie besaß einen tragbaren CD-Player, ohne den sie kaum das Haus verließ.
Außer sie ging zur Schule. Seit Beginn des Schuljahres war es verboten, CD-Player mit in die Schule zu bringen. Jaye war wütend gewesen und hatte der Schulleitung einen bösen Brief geschrieben.
Anna sah auf den Boden. Am Fuße des Bettes lagen ein Buch aus der Bibliothek, drei grellfarbene Knusperriegel, das Einwickelpapier eines Schokoriegels und die Doc Martens Schuhe, die sie von ihrem eigenen Geld gekauft hatte.
Sie liebt ihre Doc Martens und hat vier Monate darauf gespart. Sie hat auf alles andere verzichtet.
Anna sah sich noch einmal im Raum um und suchte einen Beweis, dass Jaye weggelaufen war. Oder einen für das Gegenteil.
Sie fand ihn unter Jayes Matratze. Eine dünne Blechdose mit Erinnerungsstücken: dem Trauring ihrer Mutter, einem Foto ihrer Mutter und einem Schnappschuss ihrer Mutter mit Baby Jaye auf den Armen. Dazu Jayes Geburtsurkunde und die zwei Gedichte, die sie letztes Jahr geschrieben hatte und die im jährlichen Literaturmagazin ihrer Zeitung erschienen waren. Anna entdeckte ein Bild von ihnen beiden, wie sie mit rosigen Wangen in die Kamera lächelten, die Arme um die Schultern des jeweils anderen gelegt.
Tränen in den Augen, nahm sie das Foto an sich. Sie erinnerte sich gut an den Tag, als es gemacht worden war. Sie hatten gerade Freundschaft geschlossen. Es war ein herrlich sonniger Frühlingstag gewesen, der schon die Wärme des
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