Die Angune (German Edition)
Glocke.
Dies besagte die erste Inschrift.
Der Sinn des zweiten Spruches allerdings war weniger o ffensichtlich.
Und weniger lustig!
Was war, wenn jemand Böses im Schilde führte? Würde der Donner die Glocke zerreißen? Oder würde der Klang der Glocke gar den Geist des Besuchers zerreißen? Ganz oft waren die in kurzen Zaubersprüchen benutzten Worte nur Metaphern. In diesem Spruch stand der Donner im übertragenen Sinne wahrscheinlich für ein lautes Geräusch. Wenn jemand auftauchte der nicht friedlicher Gesinnung war, den trieb die Glocke wahrscheinlich mit schrillem Geläut in den Wahnsinn. Sie zerriss den Geist des Besucher s im übertragenen Sinne!
»Euer Besuch erfreut mich außerordentlich, ehrenwerte Maga!«
Erschrocken zuckte Dran'ja Do'ul Corón zusammen. Sie war so mit der Bedeutung der Zaubersprüche an der Torglocke beschäftigt gewesen, dass sie den alten Meister der Schriften Calaele'en Obra Barkarië gar nicht hatte kommen hören.
Calaele'en war das schreckhafte Zusammenzucken der alten Frau nicht entgangen.
»Oh! Ich habe Euch erschreckt! Das tut mir leid!«
Die Maga reagierte etwas zickig.
»Nicht schlimm. Es ist ja auch kein Kunststück, eine alte Frau zu überrumpeln.«
Auch wenn sie den Meister der Schriften glauben machen lassen wollte, er hätte sich unpässlich benommen, so war sie doch eher sauer auf sich selbst, denn ihre Sinne sollten eigentlich die Körperenergie jeder sich nähernden Person erkennen. Aber die Beschaffenheit der magischen Zeichen auf der Torglocke hatte sie so in Anspruch genommen und abgelenkt, dass sie die Ankunft des Meisters der Schriften nicht gespürt hatte.
Calaele'en zeigte mit dem Finger auf die Türglocke.
»Das ist nur billiger Ramsch, den ich auf einem Trödelmarkt erstanden habe.«, sagte er. »Wertloses Zeug! Ich wollte sie schon wegschmeißen, denn die Besucher beschweren sich immer darüber, dass sie nicht funktioniert.«
Die Maga studierte kurz d iesen Mann, der so gar nicht dem Bild eines wohlhabenden Gelehrten und Stadtmenschen entsprach. Auf dem Kopf trug er einen einfachen runden Strohhut, dessen Krempe weitgehend ausgefranst war und besser zu einem hörigen Landarbeiter gepasst hätte. Eine Schurr in der Taille raffte einen knielangen, fleckigen Kittel aus naturfarbenem Leinen zusammen, unter dem ein paar braune Beinlinge - ebenfalls aus Leinen - hervorschauten. Und die dreckigen Füße steckten in alten, abgenutzten Bundschuhen.
»Sie bleibt stumm?« fragte die Maga, hob überrascht die Augenbrauen und schaute kurz auf die Glocke mit den mäc htigen Runen.
»Ja, sie läutet nicht mehr, ganz gleich wie fest man an der Kette zieht! Ich weiß auch nicht warum, aber sie schweigt b eharrlich. Habt Ihr versucht zu läuten, ehrenwerte Maga?«
»Nein, bis jetzt noch nicht. Ich bin eben erst angeko mmen!«
»Dann versucht es doch einmal, bitte! Wenn sie weiterhin schweigt, werde ich sie wegwerfen müssen.«
Die Maga zuckte mit den Schultern, zog kurz an der Kette, und die Torglocke begann hell und rein zu läuten.
»Was für ein wunderschöner, reiner Ton diese Glocke doch hat! Findet ihr nicht, ehrenwerte Maga?«
Die Augenbrauen der Maga zogen sich eng zusammen und ließen nichts Gutes verheißen, als sie den alten Mann mit verärgertem Blick anschaute. Doch dieser ließ sich nicht von den düsteren Wolken in ihrem Gesicht beirren.
»Wenn Ihr einverstanden seid, sollten wir ins Haus gehen. Erstens möchte ich mich umziehen. Ich war draußen auf der Weide bei den Ziegen ...«
Der alte Meister der Schriften hielt sich beide Hände vor die Nase und roch daran.
»... und rieche etwas streng. Ferner ist es drinnen etwas kühler als hier draußen. Schlussendlich möchte ich Euch etwas zu trinken anbieten. Bei der Gelegenheit bekäme ein alter, durstiger Mann nämlich auch einen Schluck.«
Der Meister der Schriften trat an der Maga vorbei zur Tür.
»Wenn ich Sie also bitten darf einzutreten, ehrenwerte Maga!«
Langsam öffnete sich ein Flügel des schweren Tores , das lautlos aufschwang und den Blick in das Innere der Mauern erlaubte.
Hinter dem Tor erkannte die Maga einen Innenhof von quadratischer Form, der auf den Seiten von einer durchgehe nden Kolonnade umgeben war, und die gesamte Grundfläche des Gebäudes einnahm. Auf der freien Hoffläche war ein Ziergarten angelegt worden, dessen Mittelpunkt ein Wasserbecken bildete, in dem eine blaugrüne Statue ihren Platz gefunden hatte.
Als die Maga den Innenhof betrat, sah sie
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