Die Ankunft
ihn für ein wenig verrückt halten. Dennoch schien er die Fragen Rheinbergs ergeben zu erwarten.
»Wo befindet sich Kaiser Gratian zurzeit?«
»Er reitet gegen die Alemannen.«
»Ist sein Feldzug von Erfolg gekrönt?«
Aurelius wusste es nicht, das war ihm anzusehen, aber er wollte es nicht zugeben. »Der Kaiser siegt, weil Gott an seiner Seite steht.«
»Ohne Zweifel.« Rheinberg blätterte und sagte auf Deutsch, an Neumann und Becker gewandt: »Gratian führte im Jahr 378 einen Feldzug gegen die eindringenden Alemannen. Damit verbunden war neben einem großen Sieg bei Colmar vor allem der letzte historisch verbürgte Rheinübergang eines römischen Kaisers. Danach nahm er Residenz in Sirmium, später zog er nach Mailand um.«
»Und?«, fragte Becker. Rheinberg sah ihn an.
»Das heißt, das Ende Westroms hat begonnen. Ab jetzt ist Rom beständig in der Defensive. Gratian wird nach dem Tode Valens' Theodosius zum Mitregenten ernennen, und dieser wird nach dem Tode Gratians – er wird im Kampf gegen einen Usurpator sterben – der letzte Kaiser des Gesamtreiches sein. Achtzig Jahre später ist Westrom bereits zusammengebrochen und aus Ostrom wird Byzanz.«
»Ah«, machte Becker unbeeindruckt.
»Aurelius!«, wandte sich Rheinberg wieder an den Trierarchen, der der deutschen Konversation mit Unverständnis, aber gelassen gefolgt war. »Wo befindet sich Kaiser Valens zurzeit?«
»Ich weiß es nicht. Man sagt, er wolle den Aufstand des Fritigern niederschlagen. Wir bekommen hier die Nachrichten aus Ostrom natürlich eher spät.« Ehe Rheinberg etwas sagen konnte, fügte der Trierarch hastig hinzu: »Natürlich wird auch er siegreich sein!«
»Natürlich!«, bestätigte Rheinberg und wandte sich ab. Er steckte mit Becker und Neumann die Köpfe zusammen und winkte von Klasewitz ebenfalls herbei.
»Meine Herren, ich bin mir jetzt ziemlich sicher, dass wir uns irgendwann im Jahr 378 befinden, eher im Frühjahr, wenn ich mir die Temperaturen so ansehe, oder im einbrechenden Sommer. Im Westen regiert Kaiser Gratian, der gegen die Alemannen kämpft und siegreich sein wird. Er residiert offiziell noch in Trier. Im Osten regiert Valens, der im August dieses Jahres von den Goten bei Adrianopolis besiegt werden wird, wobei er selbst umkommt.«
»Besiegt wurde«, verbesserte ihn Neumann. Rheinberg seufzte.
»Verwirren Sie mich nicht. Valens wird sterben – oder ist gestorben – und Gratian wird als neuen Kaiser Ostroms Theodosius einsetzen, den Sohn des erfolgreichen Feldherrn gleichen Namens, und zwar kurz danach, weil er sich mit der Regierung des Gesamtreiches überfordert sieht. Die Völkerwanderung hat begonnen.«
Von Klasewitz deutete mit dem Daumen auf die Gefangenen.
»Und die da?«
»Römische Flotte, aller Wahrscheinlichkeit nach aus Ravenna.«
»Was bedeutet das alles für uns?«, fragte Becker.
Rheinberg überlegte. Er wusste selbst keine eindeutige Antwort auf diese Frage.
»Das werden wir besprechen müssen. Klar ist aber jetzt, dass all dies kein Traum, kein Trick und kein Wahn ist. Wir sind im Jahr 378. Wir sind durch die Zeit gereist.«
Rheinberg ließ die Worte einen Moment wirken. Selbst von Klasewitz schien sich dieser Erkenntnis nicht mehr verschließen zu wollen. Und er sah fast froh darüber aus, dass es nur von Krautz erwischt hatte und nicht Rheinberg, sodass er jetzt keine Fragen wie die von Becker beantworten musste.
Plötzlich fühlte Rheinberg eine Schwäche, die seinen ganzen Körper zu erfassen drohte. All die Aufregung, die Hektik des Angriffes, der unnötige Tod des Kapitäns, die Erkenntnis über ihre Situation, die neue Verantwortung und nicht zuletzt die leichten, aber schmerzhaften Verletzungen machten sich mit einem Male bemerkbar. Rheinberg seufzte auf und hockte sich hin, wies erst Neumann fürsorglichen Griff ab, doch für ein zweites Mal fehlte ihm die Kraft.
»Herr Kapitän, Sie müssen sich ausruhen«, insistierte der Arzt. »Die erste Krise ist vorbei und wir können uns einen erschöpften Kommandanten am Rande seiner Kräfte nicht leisten.«
Becker nickte bloß. Von Klasewitz schaute eher verwirrt drein, als bereite ihm die Erkenntnis, dass er der Herr der Saarbrücken war, wenn Rheinberg ruhte, eher Unbehagen. Rheinberg selbst konnte sich dem Argument Neumanns nur schwerlich entziehen. Er fühlte sich müde, ausgepumpt, und Gedanken purzelten durch seinen Kopf, jetzt, wo die erste Anspannung nachließ. Seine Wunden schmerzten, und der Tod des Kapitäns lastete wie ein Albdruck auf
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