Die Ankunft
Michellus, der sich so weit beruhigt hatte, dass er wieder dem Konfekt zuzusprechen imstande war. »Wenn stimmt, dass Valens tot ist, dann muss Gratian nun den Krieg im Osten organisieren.«
»Das kann er nur, indem er einen neuen Kaiser im Osten ernennt. Er wird sich überfordert fühlen, selbst das gesamte Reich zu regieren«, urteilte Symmachus.
»Das deckt sich mit dem, was ich weiß«, bestätigte Rheinberg. »Aber hier ist der Punkt: Genau das gilt es zu verhindern. Ich bin zu der Überzeugung gekommen, dass Gratian Kaiser des gesamten Reiches bleiben muss, und das länger als bloß ein paar Monate.«
»Erklärt uns das!«, forderte Renna. »Ich kenne den jungen Theodosius. Wenn er nur etwas nach dem Schlage seines Vaters ist, dürfte er keinen schlechten Kaiser abgeben.«
Rheinberg sammelte seine Gedanken, ehe er fortfuhr. Er wusste, dass er lediglich diese eine Chance haben würde, um Verbündete zu finden, die er so nötig brauchte.
»Theodosius ist in der Tat nicht ohne Talent«, gab er schließlich zu. »Soweit ich die Geschichte kenne, wird er recht erfolgreich darin sein, die Streitkräfte des Ostens wieder aufzubauen. Er wird einen Vertrag mit den Goten schließen und sie als Foederatii ins Reichsgebiet aufnehmen, womit er einen Präzedenzfall schafft – die Goten werden eine eigene Regierung behalten dürfen und sind nicht mehr Untertanen, sondern Bundesgenossen Roms. Das ist verschmerzbar. Theodosius wird außerdem den Usurpator, der Gratian stürzt – um den werden wir uns in jedem Falle kümmern müssen! –, letztlich besiegen und die Reichseinheit als letzter Kaiser Gesamtroms bewahren.«
»Das hört sich doch gut an«, meinte Renna.
»Theodosius wird in unserer Zeit ›der Große‹ genannt. Und das hat nichts mit seinen zweifellos großen diplomatischen und militärischen Erfolgen zu tun, sondern damit, dass er extrem rigide religiöse Gesetze erlässt, die nicht nur die heidnischen Kulte verbieten und ihre Anhänger der Verfolgung aussetzen, sondern auch die von der katholischen Richtung abweichenden Christen unter einen starken Druck stellen, allen voran die Arianer. Er wird die Privilegien der Kirche ausweiten, insbesondere die Steuerfreiheit sowie die Befreiung der Priester von allen Dienstlasten. Theodosius wird die Grundlage für eine andauernde innere Instabilität des Reiches ebenso wie für den endgültigen finanziellen Kollaps des Westens legen. Sicher, er wird die Einheit der Kirche herstellen, zumindest für eine gewisse Zeit.«
Rheinberg hatte nicht die Absicht, den Römern von Martin Luther zu berichten – oder von der Tatsache, dass er selbst Protestant war und als solcher ganz sicher den Zorn des Ambrosius auf sich ziehen würde.
»Theodosius ist sicher kein Narr, wenngleich er für seine plötzlichen Wutausbrüche bekannt gewesen ist. Aber Gratian, das ist zumindest das, was ich weiß, war durchaus bereit, gegenüber anderen Religionen und Strömungen innerhalb des Christentums eine größere Toleranz walten zu lassen – das heißt, noch ist das der Fall. Ambrosius wird ihn bald vollends unter seine Fittiche nehmen. Aber selbst dann war Gratian in Kirchenfragen immer zurückhaltender als Theodosius. Es ist mir egal, warum das so war, klar ist für mich jedoch auch, dass die Idee Konstantins, mit der Einführung des Christentums als Staatsreligion die Reichseinheit zu befördern, sich als Trugschluss erwiesen hat. Das können und wollen wir nicht rückgängig machen – dennoch, die kostspieligen und zeitraubenden und das Volk verstörenden Verfolgungen und staatlichen Repressionen müssen ein Ende haben. Es gibt größere Probleme, und die kann das Imperium nur lösen, wenn es diesen vereint entgegentritt.«
Rheinberg hielt inne, den Mund wieder trocken. Die Rede war länger, als er es geplant hatte. Viele Ideen hatten sich erst entwickelt, als er sie aussprach. Alles wirkte etwas unausgegoren und undurchdacht, aber viele der Überlegungen, die er sich gemacht hatte, als er schon in der Schule über den Untergang Roms nachgedacht hatte, waren wieder zum Vorschein gekommen.
Es schien nicht alles Blödsinn zu sein. Dass Symmachus den Worten Rheinbergs Sympathie entgegenbrachte, verwunderte ihn naturgemäß nicht. Der Senator wirkte zufrieden, ja bestätigt.
Alle Blicke richteten sich auf den kauenden Michellus. Rheinberg ahnte längst, dass sein Verhalten eine Maske war, um dahinter seine Gedanken und Überlegungen zu verbergen. Der Senator war ein gewiefter Politiker, wenn er
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